Vorderindien. Einleitung.
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des Hindu, die Braminische. Sie lehrt ein höchstes göttliches We¬
sen, welches sich dreifach als Brama (Schöpfer), Wischnn (Erhal¬
ter) und Schi wen (Zerstörer der Welt) darstellt, ist aber durch die
Personifikation der göttlichen Eigenschaften, die selbst bildlich zum Theil
als Ungeheuer in ben Tempeln (Pagoden) dargestellt werden, völliger
Polytheismus geworden. Die Vorschriften, die in den Wedams, der
heil. Schrift der Hindus, enthalten sind, dringen auf höchst sittlichen
Lebenswandel, Verehrung der Götter durch Fasten, Opfer, Almosen,
besonders auf Büßung und Selbstpeinigung, welche letztere hier zu ei¬
nem schauderhaften Grade getrieben werden, Enthaltung von Fleisch¬
speisen für gewisse Stände, Baden und Wallfahrten*); Priesterwahu
und Eigennutz hat schauderhafte Gebräuche, Kinder- und Selbst¬
mord, Verbrennung der Wittwen mit den Leichnamen ihrer
Männer und tausend alberne Vorurtheile hinzugefügt. Der Kinder¬
mord ist durch Englische Gesetze abgeschafft, die Verbrennung der Witt¬
wen wenigstens beschränkt; bei einigen Stämmen herrscht Vielmän¬
nerei. Zahlreich, zum Theil uralt und prachtvoll sind die Tempel
(Pagoden), in und neben denen eine Menge Priester und Tänzmäd-
chen (Bayaderen) wohnen, welche den oft prächtigen Gottesdienst,
Opfer, Processionen, feierliche Tänze und dergl. besorgen. Es giebt
Mönche und Einsiedler; aber auch Büßer und Schwärmer der unsin¬
nigsten Art sind nicht selten. Durch Aberglauben und Vorurtheil ist
das Volk zu sehr gefesselt, besonders aber durch einen fast unüber¬
windlichen Widerwillen gegen Europäer in den Fortschritten der Gei¬
stesbildung aufgehalten. Seit Jahrtausenden vielleicht steht dies Volk
auf derselben Bildungsstufe. Wissenschaften, z. B. Mathematik,
Astronomie, Philosophie, Geschichte, sind dem gelehrten Stande nicht
unbekannt, aber trotz dem Umgänge mit Europäern ist er nicht im
Stande, sich aus den einmal bestimmten Gränzen zu bewegen. Aus¬
nahmen davon sind selten; daher macht auch das Christenthum hier
verhältnißmäßig nur sehr geringe Fortschritte; jedoch hat sich die Zahl
der Missionsschulen, in denen Hindukinder unterrichtet werden, die
wahre Saat zur künftigen Ausbreitung des Christenthums, zweckmäßiger
als Predigten und Bibelverbreitung, in neuerer Zeit schnell vermehrt.
Künste sind seit alter Zeit einheimisch, und in der Baukunst, Bild¬
hauerei und Dichtkunst ist, freilich im eigenen Geschmacke, Ausgezeich¬
netes geleistet, auch Malerei und Schauspielkunst ist nicht unbekannt.
Höchst auffallend ist die dem Hindu eigene Leichtigkeit in Erwerbung
mechanischer Fertigkeiten; daher die Vortrefflichkeit so vieler Gegenstände
der Industrie, die er mit unglaublich einfachen Werkzeugen verfertigt;
seine gewebten Zeuge, seine Arbeiten in Metall, Elfenbein, Perlen und
Edelsteinen übertreffen oft die Europäischen Waaren dieser Art. Das
merkwürdigste in dem politischen Zustande dieses Volks ist die Einthei-
lung in bestimmte Stände, Kasten, aus denen ein freiwilliges Her-
*) Aber die heiligen Bücher darf das Volk nicht lesen und die ganze
Sittenlehre besteht darin: keine Kuh zu schlachten, keinen Braminen
zu beleidigen und die Gebräuche auszuüben, welche zur Versöhnung
der Götter gefordert werden. Heber.