Das Königreich Neapel.
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Zweiter Brief den 43ten October 4805. „Unsre Wohnung
am Ufer der Sec wird durch die Aussicht nach dem Vesuv hin,
der noch immer sein großes Feuerwerk fortsetzt, höchst anziehend.
Jedes Zimmer hat seinen Balcón. Ich trete aus den meinigen
hinaus, sobald die Sonne ihren ersten Strahl über den Vesuv
in meine Zelle wirft; und mich umfangt von allen Seiten in ih¬
rer ganzen Festlichkeit die Fülle einer hesperischen Natur. Dort¬
hin rechts nach Westen das Vorgebirge Pausilip, mit seinen
Pinienkronen, Cypressen und Landhäusern; links das Vorgebirge
der Minerva — welche sinnvolle Namen, jenes die Ruhe, dieses
die Weisheit! — beide strecken sich tief ins Meer hinein, als
wollten sie den auf den Wellen ruhenden hesperischen Himmel
umfangen. Letzteres ist mit den Städten Portici, Resina, Torre
del Greco, Torre dell'Annunziata und mit unzähligen Villen be-
deckt. Alle diese Landschaften schmiegen sich freundlich um den
Fuß des tobenden Vulcans, der unversöhnt seine Flammenströme
aussendet, und in seinen innersten Schlünden donnert es, als
hätten tausend Cyklopen darin Waffen des zürnenden Jupiters zu
schmieden, indeß die glühende Lava ruhig in ihren Ufern fortstießt.
So gefahrvoll dies große Schauspiel in der Ferne erscheint, so
ziehen doch täglich zahlreiche Gesellschaften zu dem furchtbaren
Berge hinauf; auch wir schickten uns an zu einem solchen Zuge.
Den 48tcn August machten wir unsre Wallfahrt bis zu seinem Gi¬
pfel. Dis Resina fuhren wir, dort wurden Esel genommen, und
so beritten zogen wir Nachmittags um 4 Uhr den Berg hinan.
Zwischen lauter Weingärten und einsam gelegenen Landhäusern
windet der romantische Weg sich zum Gipfel empor. Der be¬
rühmte Wein, Lagrima Christi genannt, hing noch in seinen Trau¬
ben und röthete wie dunkle Purpurguirlanden die grünenden Ran¬
ken, welche wie zarte Sympathieen die hohen Ulmen umarmten,
und Arcaden bildeten, die der Phantasie Stoff gaben, die lieb¬
lichen grünen Labyrinthe weit über den Anblick hinaus, mit ent¬
zückenden Ueberraschungen zu bereichern. Ueberall herrschte in die¬
sem grünen Leben eine süße, bis zur Schwärmerei begeisternde
Einsamkeit. Die milden Sommerlüfte kamen von den Hügeln
und aus den heimlichen Lauben der Thäler zu uns herüber, und
statterten zu andern Lauben hinüber, zum ewigen Spiel mit Blät¬
tern und Trauben. Links und rechts an der Hauptstraße kleine
Eingänge, wie bekränzte Pforten zu geheimnißvollcn bacchischen
Thälern. Oft wandelte die Lust mich an, mich in dieses Laby¬
rinth zu stürzen, und unterzutauchen, wie die Luft in das grüne
Dlättergewühl; aber ich folgte dem Zuge unsrer Pilgerschaft, und
bald erreichten wir eine Anhöhe voll Grauen und Entzücken; die
Natur wird hier dürftiger; die arme Gcnista nährt sich kümmer¬
lich zwischen unfruchtbaren Felscnzacken einer alten Lava; von al¬
len Seiten erblickten wir tiefe, schwarze Thaler, in welchen viel-