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Hochthurm-Lauine. Mitunter aber scheint ein Berg wie auseinander¬ 
fallend sich in lauter kleine Lauinen auflösen zu wollen, und dann 
reichen keine Namen mehr hin, die Zahl der Schneestürze vollständig 
anzuzeigen. 
Ebenso irrthümlich wie vielseitig das Entstehen der Lauinen auf¬ 
gefaßt wird, ebenso unrichtig ist oft das Bild, welches die Phan¬ 
tasie sich von der äußeren Erscheinung des Phänomens während 
des Sturzes entwirft. Es ist ein kugelnder Ballen, wie man wohl 
glaubt, der oben in der Bildungsheimath klein wie ein Kohlkopf, 
mm durchs Herabrollen und durch das massenhafte Anhängen der 
Schneetheilchen immer größer wird, und endlich einem Globus von 
kolossalem Durchmesser gleicht, der unten erst, wie eine Bombe zer¬ 
platzend, seine Schneeladungen ausstreut; ein solch progressives, 
sphärisches Formen, ■— wie man es vor Eintritt des Thauwetters im 
Tieflandswinker wohl spielweise von Knaben ausführen sieht, wenn 
sie einen Schneemann bauen wollen, — würde mindestens eine gleich¬ 
mäßig geneigte, von keinen Felsentreppen und Fluhwänden unter¬ 
brochene, also der Hügelformation ähnliche Abdachung eines Berges 
voraussetzen. Der Sturz einer Lauine, jeder Gattung, gleicht fast 
immer dem Bilde eines im völligsten Schaum aufgelösten Wasserfalles. 
Gewöhnlich hört man den Sturz früher, als man ihn sieht. Durch 
den donnernden Schall plötzlich aufgeschreckt, richtet der Blick des 
mit der außerordentlichen Erscheinung nicht vertrauten Fremdlings 
sich gewöhnlich in die Höhe und sucht am Firmamente die Gewitter¬ 
wolken, welche die gewaltig tönenden Schwingungen hervorrufen; 
aber droben im tiefen blauen Aether lagert lichte Ruhe, — kein 
Wölkchen schwimmt im Luft-Oceane. Schon rollt das Getöse nach¬ 
haltend durch die Thäler und erneuert jetzt abermals, stärker an¬ 
schwellend, die erschütternden Tonwellen, als das Auge niedersinkend 
drüben am Silber-Mantel des Berges rauchendes, von den Lüften ver¬ 
wehtes, stäubendes Gewölk und unmittelbar darunter eine gleitende, 
niederwallende Bewegung an den kaum zuvor noch in starrer Todes¬ 
ruhe daliegenden Firnhängen wahrnimmt. Scheinbar langsam, im 
stolzen, getragenen Zeitmaß, schwebt die Schnee-Kaskade wie breite 
Atlasbänder über die Felsenwände herab, staucht tiefer an hervor¬ 
tretenden Fluhsätzen auf, zerstiebt in wollig-runde Schaumbogen und 
zerflatternde Wolken-Wimpel, wie die Intervallen eines Strom- 
Kataraktes, oder verliert sich sekundenlang in verborgene Schluchten 
und sinkt, das Schauspiel von Stufe zu Stufe wiederholend, hinunter, 
bis sie auf flach auslaufenden Alpmatten oder im tiefen Trümmer- 
Becken zur Ruhe kommt. Mit dem Verschwinden des vermeint¬ 
lichen Stromes verhallen auch die, den Fall begleitenden, grollen¬ 
den Donner, und der Wanderer überzeugt sich staunend, daß beide 
Thätigkeiten in unmittelbarer Wechselbeziehung zu einander standen. 
Dort aber, wo der scheinbare Staubbach herniederwallte, zeigt eine 
Gcozr. Bilder. I. 4t« Aufl. 11
	        
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