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Zeichnung in Worten zu entwerfen, weil ich fühlte, daß, wenn ich
es nicht gleich auf der Stelle thäte, ich eine Stunde nachher nicht
den hundertsten Theil von dein, ivas ich jetzt mit meinen Sinnen
wahrnahm, mit meiner Phantasie wieder erreicheil würde. _ Allein
ich unterlag bald diesen ersten Versuchen, und fand, daß die Kunst
ihre eigenen Werke der Statur nachahmen könne, daß es ihr aber
unmöglich sei, erhabene Gegenstände uiid Scenen in Worten oder
andern Zeichen treu darzustellen, und dasjenige nur einigermaßen
auszudrücken, was den Rheinfall zu einer der größten Erscheinungen
in der Natur macht. Deuil gerade die, eine jede andere sichtbare
Bewegung, und selbst die Schnelligkeit unserer Gedanken übersteigende
Geschwindigkeit, womit man unaufhörlich Wellen über Wellen Her¬
stürzen sieht, als wenn sie von der Hand des Allmächtigen herab¬
geschleudert würden, ferner die unglaubliche Kraft, mit welcher diese
Wellen die aus ihrem schon Jahrtausende geschlagenen Bette hervor¬
ragenden Felsen zersprengen, und sich selbst zernichten zu wollen
scheinen, endlich die unendliche Mannigfaltigkeit von ganz neuen
Tönen, Getösen und Gestalten, womit die Wellen in sich selbst hinein
und wieder herausstrudeln, gerade dieses, also was am meisten
Bewunderung und Erstaunen hervorbringt, läßt sich weder durch
Worte, noch durch Zeichnungen, und durch diese noch weniger, als
durch jene ausdrücken.
Schon eine Stunde vor dem Fall, nämlich vor der Rheinbrücke
bei Schaffhausen wird das Bett des Rheins so abschüssig, und der
Fluß selbst so reißend, daß alle Schiffe ausgeladen werden müssen.
Nahe vor dem großen Sturze aber werden seine Gewässer durch
unzählige, theils verborgene, theils hervorragende Klippen in fürchter¬
liche Strudel unb schäumende Wellen zerspalten, bis er endlich von
einer Höhe von etwa 75 Schuhen an einer steilen Felswand herunter¬
schießt. Gerade an der Stelle, wo die herabstürzenden Fluchen sich
mit dem Flusse wieder vereinigen, steigen zwei Felsen hervor, unter
welchen der zweite der größte, der erste aber, den man von der
Züricher Seite sieht, der kleinste und gebrechlichste ist. Sein Fuß ist
durch die Gewalt der Wellen größtentheils verzehrt, und es scheint,
als wenn eine jede iljn von neuem angreifende Wassersäule denselben
umwerfen könnte. Dieser Fels macht, daß man (von der linken Ufer¬
seite) nur einen Theil des Wasserfalls, denjenigen nämlich übersehen
kann, der zwischen ihm und dem Ufer ist, auf welchem man steht.
Dieser Theil ist aber unstreitig der wichtigste, und läßt sich wieder in
vier Absätze zerlegen. Beim ersten stürzen die Wellen mit einer solchen
Gewalt herab, daß es fast unmöglich ist, mit sterblichen Augen einen
stärkern, sinnlichen Ausdruck von Kraft zu sehen. Schon von diesem
ersten Sturze steigen unaufhörlich Wolken über das obere Bette des
Flusses empor, und es ist, als wenn man in die Spitze einer mächtigen
Wassersäule hineinsähe, die durch künstliche Triebwerke in die Höhe