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E. In der Schweiz.
hohen Bergwällen. Nach Norden zn wehren sie allen rauhen Winden den
Eintritt, und für die heißen Winde des Südens führt der Weg nur über die
meileuweiten Schuee- uud Gletscherfelder des Berner Oberlandes, sodaß das
Bödeli nur von Ost- und Westwinden gestreift wird, denen die breiten See-
decken jene milde nnd weiche Beschaffenheit verleihen, die bekanntlich für kranke
Lungen fo unbeschreiblich wohlthütig ist. So wirken die reine, kräftigende
Gebirgslnft und das milde, fast südliche Klima (mittlere Jahrestemperatur
- 80 E) der fruchtbaren Niederung zusammen, um Jnterlaken zu einem Welt-
berühmten Luftheilorte zu machen.
Allsommerlich mündet hier ein Strom von Reisenden und Kurgästen ans
aller Herren Ländern. Man hat in einzelnen Sommern gegen 50000 Fremde
gezählt, und noch immer ist die Zahl der Gäste im Wachsen. So erklärt es
sich, daß die Reiseführer über 40 mehr oder minder bekannte Gasthöfe und
Pensionen aufzählen, und daß Jnterlaken zum Teile eine glänzende Hotelstadt
ist, „ein Stückchen Paris unter Schweizer Nußbäume verpflanzt".
Wer sich eine Vorstellung von dem Leben machen will, das sich hier be-
wegt, der besuche den „Höheweg" Jnterlakens. Er ist berühmt wie Santa
Lucia in Neapel, die Spanische Treppe in Rom, die Boulevards von Paris,
der Hydepark iu London — gepriesen als einer der schönsten und großartigsten
Spazierwege unseres Weltteiles.
In einer Länge von 2500 Schritten zieht sich der Höheweg hin; zu
seltener Größe emporgewachsene Nußbäume, eine Zierde von Jnterlaken, wöl-
ben ihre dichtbelaubten Äste schattenspendend über der breiten Straße; in
langer Reihe umsäumen dieselbe auf der Nordseite prächtige Gasthöfe, jeder
von ihnen in einem eigenartigen Gefchmacke erbaut, mit Flaggen geschmückt, mit
Springbrunnen, üppigen Blumen- und Baumgärten und der Entfaltung alles
Luxus; ihnen gegenüber aus der audereu Seite der Straße dehnen sich sanfte
Wiefenflächen bis zu den Vorbergen des Lauterbruuner Thales aus. Nnd welches
bunte Treiben belebt vom Morgen bis zum Abende diesen Corso des Kurortes!
Neben dem überfüllten und hoch mit Kosfern belasteten Hotelomnibus, dem
eleganten Modewagen, dem leichten Brougham und der beflügelten Victoria —
schwerfällige Rüst- und Erntewagen, das dorfgeschichtliche Bernerwägele mit
seinen Insassen in Berner Tracht. Welches Sprachengewirr unter den Lust-
wandelnden! Es ist nicht eine Sprache Europas, die uicht vertreten wäre.
Wie mannigfaltig die Trachten, wie verschieden die Gesichtszüge der Gäste
aus den verschiedenen Nationen! In der That, man könnte durch das Menschen-
gewühl allein gefesselt werden, wenn nicht immer wieder ein Punkt den Blick
auf sich zöge: die in ihrem Schnee- und Eisgewande strahlende Jungfrau,
die Königin der großartigen Gebirgswelt im Süden, die Jnterlakeu seinen
größten Reiz verleiht; denn hier hat der gewaltige Baumeister der Natur