Odysseus.
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mutigen Sinnes stand er dabei und dachte an seinen heißgeliebten
Freund. „Zürne mir nicht, Patroklos," sprach er seufzend, „wenn du
vielleicht unten im Hades vernimmst, daß ich Hektors Leiche dem be-
kümmerten Vater zurückgegeben habe."
Ehe noch der Morgen tagte, kehrte Priamos mit der Leiche seines
Sohnes nach der Stadt zurück. Schon vor dem Thore kamen ihm
Andromache und Hekabe entgegen, eilten auf den Wagen zu und um¬
schlangen wehklagend das Haupt des Toten. „Ach, Hektor, daß du so
jung dahin mußtest," schluchzte die treue Gattin, „und mich armes Weib
itnb den unmündigen Sohn zurückgelassen hast. Schwerlich erreicht
er jemals das männliche Alter; denn nun wird Troja fallen, und wir
alle werden umkommen oder gefangen davongeführt werden. Solche
Trübsal schuf dein Tod uns allen, aber mir doch die größte! O, hättest
du mir doch sterbend noch wenigstens einmal die Hand drücken können,
mir noch ein Abschiedswort voll Weisheit gesagt, das ich ewig eingedenk
im Herzen behielte und mir Tag und Nacht in meiner Einsamkeit unter
Thränen wiederholte."
Bald strömte unzähliges Volk herbei und umdrängte in dichten
Scharen den Wagen, so daß er nur mit Mühe Raum finden und bis zum
Palast gelangen konnte. Hier erhob sich von neuem die Totenklage
und endete nicht, bis die Sonne sich zum Abend neigte. Am folgenden
Tage begannen die Troer eine unermeßliche Menge Holz ans dem
Walde herbeizuschaffen und türmten draußen vor der Stadt einen
Scheiterhaufen empor, der erst nach neun Tagen vollendet war; am
zehnten Tage wurde die Leiche hinaufgehoben und verbrannt. Achilleus
hielt Wort, keiner der Griechen störte die traurige Feier. Dann wurden
die Gebeine aus der Asche zusammengelesen, in eine goldene Urne ver¬
schlossen und in die gehöhlte Gruft gesenkt; gewaltige Steinblöcke deckten
diese, unb ein hoher Grabhügel wurde darüber aufgeschüttet. Ein
festliches Totenmahl im Palast des Priamos beschloß die Bestattungs¬
feier des edlen Hektor.
57. Hdysseus.
1—7 und 10 nach E. Henrici, Schulausgabe von K. F. Beckers Erzählungen aus
der alten Welt.
8—9 nach H. W. Stoll, Götter und Heroen.
11—12 nach O. Willman n, Lesebuch aus dem Homer.
1. Penelope und die Freier.
Troja war zerstört, und die Griechenfürsten zogen mit ihrer Bente
der Heimat zu. Mancher erreichte dieselbe glücklich, mancher aber ward
von Stürmen auf dem Meere hin und her getrieben und irrte lange
unter Elend imb Gefahren aller Art umher.