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141. Der König.
Mutter, sagte der kleine Wilhelm, ich möchte wol ein
König werden!
Die Mntter fragte darauf: Weißt du auch wol, was
ein König ist, und hast du jemals einen geseben?
Der Knabe verneinte es. Da fasste der Vater lächelnd
ihn bei der Hand uitb sagte: Komm, ich will dir einen Kö¬
nig Zeigen! und führte :bn hinaus auf den Hof in den
Schnee. Denn es war Winter und sehr kalt.
Da zeigte Der Vater ihm ein kleines Döglein, und
fragte: Kennst du dies Vöglein und seine Weise und sein
Wesen? — Der Knabe antwortete: Nein, erzähle du mir
davon!
Da sagte der Vater: Siehe, das Vöglein ist das kleinste
von allen in seiner äußern Gestalt, und schlicht von Farben,
aber es hat ein sonderlich Gemüth vor allen andern. Ob-
wol es so kalt ist, und stürmet und schneiet, und überall
nichts denn Schnee und Eis, so ist und bleibet es doch fro-
hes Muthes. Siehe, jetzt schwebet es auf die Zinne des
Daches, und schauet rund um sich her, so fröhlich als ob die
ganze weite Welt sein gehörte. Und das thut sie in Wahr¬
heit, denn es freuet sich derselben. — Höre, jetzt beginnt cs
sogar zu singen, und sein kleines Lied tönet wie helle Pfei¬
fen durch die Gründe, gleichsam als sänge es: Wie ist mir
doch so wohl zu Muthe! Es störet sich nicht daran, ob der
Brunnentrog vom Frost zerspringe, die Eiche krachend zer¬
spalte — es singt dem Sturm m’6 Angesicht.
Siehe, nun fleucht es hernieder zu den Baumen des Obst¬
gartens. Hier suchet cs sorgsam die Eier der Raupen, welche
im Frühjahre die Blüthen der Bäume zernagen, und zerstö¬
ret sie, auf dass der Frühling in seiner blühenden Gestalt,
und der Herbst mit vollen Aesten und Zweigen erscheinen
möge. — Siehest du, wie es jetzt wieder sich auf die Wind¬
fahne des Hauses erhebt und sein Lied anstimmt, um Alle zu
erfreuen, die es vernehmen in der kalten Wintcrzeit, und ih¬
nen ein Muster und Beispiel zu sein in fröhlicher Genüg¬
samkeit und frommem Muthe!
Da sagte der Knabe: Wie nennt man denn das liebe
Vöglein?
Da antwortete der Vater und sprach: Siche, die Men¬
schen haben, weil es ein so feines und freies Gemüth hat,
ihm einmüthiglich einen hohen Namen und Würde beigelegt,
denn sie nennen es, obwol es nur klein von Gestalt ist