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halbes Jahrhundert hindurch ein Welttheil gehorcht batte. Er starb
zu Aachen, wo er auch das Licht der Welt erblickt haben soll, und
woselbst sein Lieblingsaufenthalt war.
Karl der Große war berufen, die Stürme der Völkerwanderung,
die ein ganzes Jahrhundert hindurch (375—476) Europa in Unruhe
und Aufregung erhalten hatten, zum Ende zu bringen und auf den
Trümmern der alten Welt eine neue Ordnung der Dinge zu begrün¬
den. Um dieser Ausgabe gewachsen zu sein, bedurfte es einer solchen
Vereinigung von kriegerischem Geist und gesundem Sinn für friedliche
Bildung, wie wir sie in diesem Manne finden. Denn einerseits war
nöthig, das Brauchbare aus der alten Zeit, vor allem das Christen¬
thum zur Grundlage einer neuen Bildung zu machen; andererseits
aber den kriegerischen Geist der germanischen Völker ungebrochen zu
bewahren, um diese neue Bildung im Osten gegen das noch vorhan¬
dene Heidenthnm (Sachsen und Avaren), im Westen gegen den von
Spanien aus hereinbrechenden Erbfeind der Christenheit (Muhamme¬
daner oder Mauren) zu schützen. — Das hohe Ziel, das sich Karl
der Große gesteckt hatte, tritt besonders in einer Rede hervor, die
er im Jahr 802 an die in seinem Palast zu Aachen versammelten
Großen des Reiches hielt. Kurz und eindringlich legte er ihnen sein
Glaubensbekenntniß vor, ermahnte sie zur Liebe Gottes und des
Nächsten, und schärfte dann jedem Stand seine besonderen Pflichten
ein. „So (mit diesen Worten schloß er), so wird uns Gott ein glück¬
liches Leben geben auf Erden, und das zukünftige mit seinen Heiligen
in Ewigkeit. Gott behüte euch, geliebte Brüder!" —
143. Pabst Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV.
Die römischen Bischöfe waren schon seit Jahrhunderten so angesehen, daß sie
das allgemeine Vertrauen der Christenheit genossen, und daß ihre Entscheidung in
geistlichen Sachen das größte Gewicht hatte. Ehrfurchtsvoll nannte man sie: Lehrer
der Welt und Väter oder Päbste von dem lateinischen Worte Papa, d. h. Vater.
Ihre Gewalt in geistlichen Angelegenheiten war jedoch durch die Bischöfe beschränkt
und in weltlichen Dingen der Macht des Kaisers unterworfen. Seitdem aber Pipin,
der Frankenkönig, der Vater Karjs des Großen, den Päbsten ein weltliches Besitzthum
geschenkt (im Jahr 755), und Kaiser Kart der Große diese Schenkung bestätigt und
erweitert hatte, trachteten die Päbste beständig darnach, durch Hülfe ihrer geistlichen
Gewalt ihre weltliche Macht zu vergrößern. Mit beharrlichem Eifer suchten sie in
allen weltlichen Angelegenheiten ein entscheidendes Ansehen zu erlangen und unter¬
hielten in dieser Absicht an den Höfen der christlichen Fürsten ihre Gesandten (Le¬
gaten) mit großen Vollmachten, unter dem Vorwände, als müßten sie, die Oberhirten,
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