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ner Meinung nach die Tugend, die in der Massigkeit, Gerechtigkeit und
Tapferkeit bestehe. Er selbst war denn auch um dieselbe ernstlich bemüht.
Er ass sehr wenig und immer nur ganz wohlfeile Speisen, und im Trinken
war er gleich genügsam. Andere Menschen, konnte er sagen, leben, um zu
essen; er esse, um zu leben. So kleidete er sich auch ganz gering, und es
machte ihm Freude, Dinge, die andern Menschen gar beschwerlich erschei¬
nen, wie Hunger, Hitze, Kälte gleichgültig ertragen zu können. Wer am
wenigsten bedürfe , meinte er, der stehe der Gottheit am nächsten.
Das Orakel in Delphi hatte ihn für den weisesten der Menschen erklärt,
Er sann der Ursache dieser Erklärung nach und fing an, bei den Män¬
nern, welche im Rufe der Weisheit standen, zu untersuchen, ob nicht doch
der oder jener unter diesen weiser sei als er selbst. Aber er fand, dass sie
zwar Vieles wussten, aber sich noch mehr zu wissen einbildeten und sich
selbst für sehr weise hielten. Da kam er auf den Gedanken, er möge wohl
für den weisesten erklärt worden sein darum, weil er die Schwäche der
menschlichen Weisheit überhaupt erkenne und weil er insbesondere in Be¬
ziehung auf sich selbst einsehe, dass er Nichts wisse.
Zu dieser Ueberzeugung nun, dass es mit ihrer Weisheit Nichts sei,
suchte er auch seine Mitbürger zu führen. Er wandte sich namentlich an
Jünglinge von guten Gaben , zog sie in seinen Umgang und suchte sie auf
den Weg der Tugend zu leiten. Einst begegnete er einem jungen Menschen,
Namens Xenophon, in einem engen Durchgang. Ueberrascht von der Schön¬
heit desselben, hielt er ihm seinen Stock vor und fragte ihn, wo man Mehl
kaufe? «Auf dem Markt», war die Antwort. «Aber Oel ?» — «Eben da.»
«Aber wo geht man hin», fuhr Sokrates fort, «um weise und tugendhaft zu
werden?» Der junge Mensch stutzte. «Folge mir, ich will dirs sagen.»
Seitdem wurden Beide unzertrennliche Freunde. — Ein gewisser Euklides
aus Megara machte öfters einen Weg von acht Stunden nach Athen, um zu¬
weilen einen Tag bei Sokrates sein zu können; ja als die Athener einmal
während eines Krieges den Megarern ihre Stadt bei Todesstrafe verboten hat¬
ten, stahl sich Euklide8 oft in Weiberkleidern bei Nacht durch das Thor von
> Athen, um nur einen Theil der Nacht in des Sokrates Gesellschaft sein zu
können.
So sehr ihm aber seine Schüler anhingen, so zuwider und verhasst wurde
er nach und nach denjenigen seiner Mitbürger, die sich von ihm nicht woll¬
ten überzeugen lassen, dass es mit ihrer Weisheit nicht weit her sei. Die
Dichter, die Staatsmänner und die Eedner standen zusammen und verklagten
ihn: er leugne die Götter, verderbe die Jugend und verdiene desshalb nach dem
Gesetze den Tod. Und in der That wurde er von der grösseren Hälfte seiner
559 Richter zum Tod verurtheilt. Es würde dem ehrwürdigen Greis wohl
nicht schwer gefallen sein, das Mitleid seiner Richter rege zu machen; aber
er verschmähte jedes unedle Mittel zu seiner Rettung, dankte den Richtern
für ihren Spruch und empfahl ihnen namentlich seine Söhne. «Bemühen sie
sich», sagte er unter Anderem, «um Reichthum oder um sonst irgend Etwas
eher, als um Tugend, oder dünken sie sich Etwas zu sein, sind aber Nichts,
so. verweiset es ihnen, wie ich euch, dass sie nicht sorgen, wofür sie sollten,
und sichoeinbilden, Etwas zu sein, da sie doch Nichts werth sind. Jedoch»,
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