Full text: Lesebuch für die evangelischen Volksschulen Württembergs

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einen deutlichen Begriff, und ihre Priester müssen, ehe sie angestellt 
werden, den größten Theil des neuen Testaments auswendig wissen." 
Ein Mönch, der ausgesandt worden war, um sie wieder zur römischen , 
Kirche zu bringen, kam betreten zurück und bekannte, in seinem Leben 
habe er nicht so viel aus der Schrift erfahren, als in den wenigen 
Tagen, seit er sich mit den Ketzern unterredet hätte. Gelehrte und 
berühmte Leute, die man zu ihnen sandte, um sie zu widerlegen, er¬ 
klärten, die Kinder in den Kinderlehren hätten sie beschämt. Einer 
der Untersuchungsrichter, ein Mönch vom Orden der Dominicaner, 
gibt ihrem Wandel folgendes schöne Zeugniß: „Sie vermeiden Hand¬ 
lungsgeschäfte, um nichts mit Falschheit und Betrug zu thun zu haben. 
Sie sammeln nicht Reichthümer, sondern sind mit der Nothdurft des 
Lebens zufrieden; sie sind keusch, mäßig und nüchtern und nehmen 
sich vor dem Zorn in Acht. Man hört unter ihnen kein Schwören, 
keine Gotteslästerung, keine Possen. In allen ihren bürgerlichen 
Pflichten sind sie höchst gewissenhaft und pünktlich, in der Erziehung 
ihrer Kinder sorgfältig, und verleugnen ernst und strenge die Ver¬ 
gnügungen der Welt." 
Ihre Armen, ihre Prediger und ihre Missionäre, die von ihnen 
zur Verbreitung der evangelischen Wahrheit und zur Stärkung der 
zerstreuten Brüder ausgingen, erhielten sie bloß durch freiwillige Bei¬ 
träge und standen überhaupt in inniger Gemeinschaft unter einander. 
Die Waldenser hatten einen sehr einfachen Gottesdienst: sie san¬ 
gen Psalmen und hörten das Wort Gottes an. Bei ihren Mahlzeiten 
beteten sie knieend und führten ernste Gespräche, wie sie denn über¬ 
haupt im Umgang unter einander freundlich-ernst waren. Die Taufe 
und das heilige Abendmahl verrichteten sie einfach nach der Einsetzung 
des Herrn. 
Als König Ludwig XU. von Frankreich solch einen Bericht über 
diese Leute empfing, rief er aus: „Wahrlich, diese Ketzer sind besser, 
als ich und mein ganzes Volk!" 
Aber obgleich selbst ihre Feinde den Waldensern zugestehen mu߬ 
ten, daß ihr Wandel christlich, ihr Wort wahrhaftig, ihre brüderliche 
Liebe aufrichtig sei, so sind doch diese guten Leute von ihren römischen 
Mitchristen mit einer heidnischen Grausamkeit und Wuth verfolgt wor¬ 
den. Bei allen Verhören, die mit ihnen angestellt wurden, beriefen 
sie sich immer mit unerschütterlicher Festigkeit aus die heilige Schrift 
und achteten den Befehl nicht, der ihnen die Auslieferung ihrer 
Bibeln gebot. Selbst mancherlei Martern waren schon vergebens
	        
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