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74. Der Blinde und der Lahme.
Von Ungefähr muß einen Blinden ein Lahmer auf der
Straße finden, und Jener hofft schon freudenvoll, daß ihn
der Andre leiten soll. „Dir," spricht der Lahme, „beizustehen?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehen; doch scheint, daß
du zu einer Last noch sehr gesunde Schultern hast. Ent¬
schließe dich, mich fortzutragen, so will ich dir die Steige
sagen; so wird dein starker Fuß mein Bein, mein Helles
Auge deines sein." Der Lahme hängt mit feinen Krükken
. sich auf des Blinden breiten Rükken; vereint wirkt also dieses
Paar, was einzellt Keinem möglich war.
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Du hast das nicht, was Andre haben, und Andern man¬
geln deine Gaben; aus dieser Unvollkommenheit entspringet
die Geselligkeit. Wenn Jenem nicht die Gabe fehlte, die die
Natur für mich erwählte: so würd’ er nur für sich allein, und
nicht für mich bekümmert sein. Beschwere du Gott nicht
mit Klagen! Was er dir öfter muss versagen, und Jenem
schenken, wird gemein: wir dürfen nur gesellig sein.
75. Der Bauer unter der Eiche.
Ein Bauer wanderte, sein Essen zu genießen, dem
Schatten eines Eichbaum's zu: und gähnte schon bei jedem
Bissen recht herzlich nach der Mittagsruh'. Gewohnt von
Jugend auf zu zänkischen Gedanken, that lang' ihm schon
sein gnäd'ger Herr nicht recht; oft predigte der Pfarr' zu
schlecht: jetzt aber kam ihm ein, einmal mit Gott zu zanken.
Gelegenheit war da! Er sah die Eicheln an. Da steht nun,
— rief er auS, und überschlug die Arme, — ist das nicht
ewig zum Erbarmen! Da steht nun so ein Baum, der
Kirchen tragen kann; und hier und da ein Nüßchen dran!
Allein, mein Blut, man darf Nichts sagen; denn sagt man
was, so geht'S an ein Verklagen; da nimmt der Superdent
gar artig uns herum, und schreibt wohl gar an's Consisto-
rium. Nur schieb' ich Jedem in's Gewissen, ob sich ein
Kürbs zum Stengel schikkt. Ich seh's bei mir: die meisten
sind zerknikkt. — Das hätt' mir anders werden müssen!