Full text: Vollständiges Lehr- und Lesebuch für die oberen Klassen katholischer Volksschulen

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zu Fels, und da er wieder zurückkehren wollte, vermochte er es 
nicht. Seine Jäger sahen ihn auf der Höhe der Felsenwand 
stehen, und keiner konnte ihm helfen. Da ward der Kaiser traurig 
in seinem Herzen und zog heraus seine Schreibtafel und schrieb 
darauf die Worte: „Es ist kein Mensch, der mir helfen kann. Ich 
vermag nicht hinabzusteigen zu euch, und ihr vermögt nicht herauf¬ 
zusteigen zu mir. Ich muß hier verschmachten, Auch vermag kein 
Priester heraufzukommen, mir das heilige Sacrament, ehe ich 
sterbe, zu reichen. Da ich aber großes Verlangen nach dem heiligen 
Sacramente trage, so holet einen Priester herbei, der es mir zeige 
von Ferne und mich segne damit. Bringet meiner Frau Gemahlin, 
der Kaiserin, meinen letzten Gruß und betet für meine arme 
Seele." Darauf nahm der Kaiser seine goldene Kette, ergriff 
einen Stein, band die Schreibtafel an den Stein und warf ihn in 
die Tiefe. Der Stein fiel hinab mit großem Gekrach an den Ort, 
wo die Jäger waren. Die lasen und eilten, des Kaisers letzten 
Willen zu thun. Alsbald kam ein Priester mit viel Volk herbei, 
der hielt in seinen Händen das heilige Sacrament und segnete 
ihn. Und der Kaiser kniete nieder auf dem Felsen oben und betete 
an und flehte, Gott möge seine Seele zu sich nehmen in den Him¬ 
mel und abkürzen die Qual seines Todes. Die unten waren, 
beteten gleicher Weise mit dem Kaiser und er hörte der Betenden 
Schall aus der Tiefe, die Worte aber, die sie sprachen, verstand 
er nicht. Also thaten sie drei Tage. Am Abende des dritten Ta¬ 
ges ward der Kaiser schwach und konnte nicht mehr knien und 
legte sich nieder auf den Felsen zu sterben. Da betete er: „Du 
allein, o Gott und Herr, bist allmächtig und groß, und Alles, 
was ist, ist dir Unterthan. Könige und Fürsten sind Staub vor 
dir, und ohne dich vermögen sie nichts. Verzeihe mir um deines 
Sohnes, unseres Herrn Jesu Christi willen, dessen heiligen Leib 
ich nimmer empfangen kann, meine Sünden, und nimm auf 
meinen Geist aus dem irdischen Reiche in dein himmlisches Reich. 
Erbarme dich meines Volkes und tröste meine Gemahlin!" Wie 
der Kaiser also betete, stand auf einmal ein Knabe vor ihm auf 
dem Felsen. Der war schön und hatte goldene Haarlocken und 
rothe Wangen, schöner denn Rosen. Er neigte sich zu ihm und 
lächelte und sprach: „Herr Kaiser, folget mir." Und er reichte 
dem Kaiser die Hand. Der aber stund auf und folgte dem 
Knaben, und er führte ihn hinab von der Felsenwand in die 
Tiefe, leicht und ohne Mühe. Da sie unten waren, verschwand 
der Knabe. Der Kaiser aber sah dastehen den Priester, das 
heilige Sacrament in den Händen, und hörte beten das Volk 
mit lauter Stimme. Er trat zu ihnen, und sie schwiegen Alle, 
er aber rief: „Gepriesen sei Gott der Herr, seine Barmherzigkeit 
währet ewig. Sehet, ich bin es; ein Engel hat mich herabge¬ 
führt von der Felsenwand." Deß wunderten sich Alle, und sie
	        
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