Full text: Vollständiges Lehr- und Lesebuch für die oberen Klassen katholischer Volksschulen

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97. Die sieben stummen Söhne. 
Merkwürdig ist die Geschichte eines angesehenen Bürgers, eines VaterS 
sieben wohlgewachsener Söhne, die aber sämmtlich stumm waren. Der 
Kummer über das Unglück seiner Kinder nagte dem Vater beständig am 
Herzen, und er konnte es nicht begreifen, wie ihn Gott vor andern Vätern 
so schrecklich heimsuchte. Einst führte er seine stummen Söhne auf einen 
benachbarten Meierhof, wo man bei einem alten Schweizer frische Milch, 
Butter, Brod und Käse aß. Der bedrängte Vater warf mitleidige Blicke 
auf seine Söhne, die zwar gesund und rothwangig um den Tisch saßen, 
aber leider! stumm waren. Thränen träufelten von seinen Wangen und 
er jammerte: „O Gott, womit habe ich das verdient!" 
Der alte Schweizer, der dies Alles bemerkte, nahm den Vater auf 
die Seite und sagte mit deutscher Treuherzigkeit zu ihm: „Ich sehe wohl, 
es betrübt euch, daß eure Söhne stumm find, aber mich wundert es nicht. 
Wißt ihr noch (ich kenne euch ja von Jugend auf), wie ihr als Knabe 
den Vögeln Schlingen legtet und, wenn ihr sie finget, ihnen dieZunge aus 
dem Halse risset und fie mit boshafter Freude wieder fliegen ließet? — 
Wißt ihr's noch? — Wie oft habe ich euch gewarnt! O, die Vöglein 
unter dem Himmel, die nun mit ihrem Gesänge Gott nicht mehr preisen 
konnten, haben euch verklagt und ihr sollt aus dem Munde eurer Kinder 
nie den süßen Vaternamen hören!" Tief erschüttert hörte der Vater diese 
Worte und rief aus: „Ja, Gott ist ein gerechter Richter, der das Döse, 
wenn nicht bald, doch mit der Zeit bestraft!" 
98. Das Dogelsnest. 
Heinrich (auf einen Baum deutend). Siehst du? Siehst 
du da oben? — Wilhelm. Was denn? — Heinr. Die 
Kohlmeise in's Astloch schlüpfen. Da ist gewiß ihr Nest! — 
W i l h. Gut! so wünsch' ich ihr Glück dazu, und dir viel Glück 
zur Entdeckung. — Heinr. Du glaubst doch nicht, daß ich den 
Fund allein behalten wolle? — Wilh. Verkaufe nur die Bären¬ 
haut nicht zu früh. — Aber was wollen wir denn mit den Vögeln 
machen? — Heinr. Sie in einen Käsig stecken. — Wilh. Und 
darin verhungern lassen? — Heinr. Warum nicht gar? Können 
wir sie nicht vor unser Fenster hängen, daß die Alten sie groß 
füttern? — Wilh. Werden sie das auch thun? — Heinr. 
- Warum nicht? Der Baum ist ja nahe genug an unserm Hause. 
Kannst du dir etwas Lustigeres denken, als die jungen Vögelchen 
so flattern, zwitschern und das Maul aufsperren zu sehen, wenn die 
Alten mit Futter kommen? — Wilh. Und so etwas macht dir 
Vergnügen? — Heinr. Warum nicht? — Wilh. Würd' es 
uns auch wohl Vergnügen machen, wenn wir in einem Gefängnisse 
steckten und unsere jammernden Eltern müßten uns durch ein Gitter 
das Brod reichen? — Heinr. Sind wir denn Vögel? — Wilh. 
Aber hast du denn das Sprüchlein: „Auch ein Thier empsindet 
Schmerz, quäl' es nicht, o menschlich Herz!" ganz vergessen? — 
Heinr. Will ich sie denn quälen? am Faden herumschleppen? bei 
lebendigem Leibe rupfen? oder verhungern lassen? — Wilh.
	        
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