Full text: Geographische Bilder aus allen Erdtheilen

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Italiens Natur. 
und die Sterne, die in ungleich größerer Zahl und Pracht als bei uns 
erscheinen, geben fast Licht genug, um lesen zu können. Ueber Himmel, 
Erde und Meer ist den Tag über eine Heiterkeit und Klarheit und bei 
Sonnenuntergang eine Farbenglut verbreitet, die unaussprechlich ist. Oft 
schwimmt, nachdem die goldene Scheibe hinabgesunken, plötzlich alles in 
einem Meer von rosenroth, von dem der Blick sich geblendet abkehrt; Häuser 
und Flur, Gebirge und Meer, ja die Gesichter flammen, und wenn, wie es 
manchmal geschieht, gerade ein feiner Regen fällt, so scheint Purpur nieder¬ 
zuträufeln. Eis und Schnee sind i)ier höchst seltene Erscheinungen. Höch¬ 
stens findet man vom November bis in den März in den Abruzzen weiße 
Berggipfel, oder der Vesuv ist oft Wochen lantz in einen Schneemantel ge¬ 
hüllt; in den Thälern, aber lacht ewiger Frühling, kein Frühling zwar mit 
blühenden Bäumen, wohl aber mit frischem Rasen, mit Blumen, jungem 
Laube und Gemüsen. Er ist wie ein deutscher März; oft die wärmste 
Sonne, oft finsteres Gewölk, Regen und Sturm. Es fällt zuweilen wohl 
dem Himmel ein, fünf Wochen ohne Unterlaß Wasser herabzuschicken; von 
einer eigentlichen Regenzeit kann aber nicht die Rede sein. Auch unser 
Winter bringt zuweilen Veilchen hervor; um Neapel gedeihen sie jedoch 
neben vielen anderen Blumen in solcher Fülle, daß die Knaben vom Lande 
ganze Körbe voll Sträußchen in der Stadt feilbieten, daß im Februar an 
allen Carnevalstagen Blumen den vorüberfahrenden Damen in den Wagen 
geworfen werden. Man ist darum auch garnicht für eine rauhe Jahreszeit 
eingerichtet. Die Fußböden sind von Stein, die Fenster gehen bis auf den 
Boden und schließen nicht, die Thüren stehen immer offen, die Oefen fehlen, 
und Kamine gehören zu den seltenen Dingen. Gewöhnlich hat der Nea¬ 
politaner bei kalter Witterung nur ein Kohlenbecken, über dem er sich von 
Zeit zu Zeit die Hände wärmt. So kommt es denn, daß man unter Um¬ 
ständen nirgends mehr friert als in Italien, und zwar klagen die Russen 
am meisten, weil sie zu Hause am besten heizen. Uebrigens hat hier die 
Sonne immer große Kraft, sobald der Winter heiter ist und kein Wind 
weht. Dann liegen die Lazzaroni und Landleute im Januar auf den 
Gassen und halten wie im Sommer ihren Mittagsschlaf; dann sieht man 
noch in der Nacht halb nackte Bettler auf dem Pflaster ausgestreckt. Er¬ 
hebt sich aber der Nordwind, die berüchtigte Tramontana und rüttelt 
die schlechten Fenster, so hüllt sich der Fremde in seinen Mantel und seufzt 
nach dem traulichen Ofen in der Heimat. 
Ebenso unangenehm wie die eisige Tramontana ist ihr Gegentheil, 
der heiße Siroeco. Man erwacht morgens ohne Stärkungsgefühl, und 
bei dem ersten Athemzuge schon merkt man des Feindes Nähe. Ein Blick 
aus dem Fenster zeigt den Horizont ganz in dicke, weißgraue Nebel gehüllt, 
die wie Gebirge auf dem fernen Meere lagern. Mit jeder Tagesstunde 
steigt der silberne Druck der Atmosphäre. Unbehagen und Mattigkeit nehmen 
überhand; einzelne Landleute schleichen nach kurzem Versuche, im Freien 
zu arbeiten, todtmüde in die Dörfer. Nicht einmal so viel Kraft und Lust, 
um m etrterrt Buche zu blättern, ist vorhanden. Dann legt man sich zur 
Siesta, von der man sich noch erhitzter erhebt. Kein Blatt rührt sich im 
Walde. Man fühlt den Schweiß auf der Haut perlen. Da plötzlich streift 
em Luftzug vorüber, aber so kühl und feucht, daß man erschreckt den 
^àstìel ìlur den Leib zusammenzieht. Die augenblickliche Erfrischung und 
Abkühlung läßt die Hitze nachher nur noch schwerer empfinden. 
Heinrich Stahl.
	        
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