Full text: Der neue Kinderfreund

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fern zu Wiegcndorf sind nämlich arme Leute, und käm¬ 
pfen mit allen Nahrungssorgen, die mit der Erhaltung 
von zehn lebendigen Kindern verknüpft sind. Auch Wil, 
Helm Stellenberg wurde früh in die umliegenden Dörfer 
ausgeschickt, um sich selber sein Brod zu holen. Da¬ 
durch war ihm die herumschweifende Lebensart in Wäl¬ 
dern, Wiesen und Bergen gleichsam zur andern Natur 
geworden. In keiner Werkstätte wollte es ihm behagen; 
eben so wenig in einem Herrendienst. Wann er inr 
Frühling an seiner Arbeit oder an seinem Weberstuhl 
saß, so war es ihm, wie er mir selbst erzählte, als ob 
jedes Vögelein, das piepend an ihm vorüberflog, zu 
ihm sagte:- „Wilhelm Stellenbeg, wo bleibst du? Die 
„Kirschbäume zu Lützendorf blühen längst, warum komnist 
„du nicht? Der Sommer ist vor der Thür! Gedenke 
„der Obsthütten, und wie schön es im Grünen ist! Ich 
„pfeife auf einem Baum, und du kannst indeß auf einem 
„Blatt pfeifen Iyy Weinend gab er dann dieser Einla¬ 
dung Gehör. Die Sehnsucht nach Wald und Bergen 
befiel ihn so gewaltig, wie das Heimweh den Schwei¬ 
zer. — Er nahm sein Nachtlager nicht selten im Freien. 
Windmühlen und grüne Büsche waren sodann seine 
Schlasstatte. Wohin dies wilde Leben führt, welche ge¬ 
fährliche Verbindungen es die Jugend, besonders in 
unsern Waldgegenden, anknüpfen laßt, ist durch mehr 
als hundert Aktenstücke, die vor unsern Augen liegen, 
sattsam erwiesen. Geduld und Liebe besiegen aber 
doch endlich auch diesen tief eingewurzelten Trieb der 
Natur; man muß aber freilich nicht müde werden, den 
zum Iwauzigstenmale entlaufenen Knaben gütig wieder 
aufzunehmen! 
Stellenberg ist dermalen ein sehr ordentlicher und 
arbeitsamer Webergesell, der die Vögel ihren Gesang 
pfeifen, und die Windmühlen ihren Gang gehen laßt, 
und Alles aus jener wilden Zeit vergessen hat, außer 
der ihm von seinem Meister erwiesenen grosten Liebe und 
Treue, die noch, Gott sey Dank, wie das hier unten 
beigefügte Zeugniß beweiset, bei ihm im frischen Ge¬ 
dächtniß ist. 
„Ich, Johann Wilhelm Stellenberg, bekenne hier¬ 
durch, wie mir Anfangs der Weg zum Guten so sauer 
/geworden, daß ich mir gar oft am Hackeklotz 
i „habe
	        
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