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liebe muß leicht verzeihen, das ist fromm und
edel.“
Den Eigensinn kann Niemand leiden,
Er schadet selber sich und stoͤret Andrer Freuden.
2. Das liebe Voͤgelchen.
GSiehe das 2te Umschlagskupfer).
Die kleine Marie hatte an einem schoͤnen Distel⸗
finken ihre groͤßte Freude. Ein B auerknabe hatte ihn
aus dem Neste genommen, als er noch nicht fliegen
konnte, und sie kaufte ihm das arme Thierchen ab,
das, ohne ihre Pflege, gestorben waͤre. Mit der groͤß—
ten Sorgsamkeit fuͤtterte sie das liebe Voͤgelchen groß.
Es saß ihr auf der Hand, auf dem Kopfe, und
kannte seine Wohlthaͤterin. Im folgenden Fruͤhjahr
fing es an zu singen, und das war fuͤr Marien die
groͤßte Lust.
Einst flog es außerhalb des Bauers in der Stube
umher. Ein Katze hatte sich in die Stube geschlichen
als Niemand darin war. Marie stand draußen vor
dem Fenster. Auf einmal ging das Fenster auf und —
der Distelfink flog heraus. Ach, wie erschrak, wie
weinte sie, wie rang sie sich die Haͤnde, da sie glauben
mußte, sie haͤtte ihr Voͤgelchen auf immer verloren!
Sie blickte ihm nach, indem es hinwegslog und es
setzte sich auf den duͤrren Zacken einer stanken Eiche.
Hinauf konnte sie nicht klettern, und rief angstlich
„ach, liebes Voͤgelchen, komm doch herab ich will dir
auch das beste Futter geben!“ Es kam nicht.
Als sie sich umsah, erblickte sie einen wohlgeklei⸗
F deten