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ten, schnell wieder verschlossen. Als nun die sichere Treppe vor ihnen
lag, wagten beide zuerst für einen Augenblick ruhig Athem zu schöpfen,
und indem das Mädchen die Augen öffnete und ihren Retter anblickte,
zweifelte dieser nicht mehr, das; es ihm gelungen war, die zu retten, die
er schon verloren glaubte. Seine Vermuthung ward Gewißheit, als er
die kleine ihm wohlbekannte Chatulle erblickte, welche die Geängstigt«: noch
immer krampfhaft in der Hand hielt. Denn noch immer drohte die
Gefahr, die Flammen und die dicken Rauchsäillen erfüllten den Gang
und näherten sich immer mehr. Sie eilten die Treppe hinunter, und
waren nun in dem gedrängten Haufen von Menschen unter dem Portale.
Aber es war unmöglich dürchzudringen. Sie wurden unwillkürlich nach
dem innern Hofe hingeschoben und suchten hier einige ruhige Augenblicke.
Ihre Lage war indeß'nichts weniger als gefahrlos, und nur das Gefühl,
daß sie einer weit größeren Gefahr, fast wie durch ein Wunder, entgan¬
gen waren, daß sie hier die geringere mit einer Menge kühner, emsig
beschäftigter Menschen theilten, ließ sie eine Zeit lang das Bedenkliche
ihres Zustandes übersehen. Aus allen Fenstern schlugen die hellen Flam¬
men heraus, und selbst in dem Mittelpunkte des Hofes, wo sie unter
hin- und herlaufenden Menschen den Ruheplatz fanden, in der größt¬
möglichen Entfernung von dem Gebäude, herrschte eine furchtbare Gluth.
Das Wasser der Spritzen strömte durch den Hof und über die hier und
da eingestürzten Mauern; die Feuerfunken fielen in dichten Haufen herunter,
und das Gewirr der einander sich durchkreuzenden, rufenden, schreienden
Stimmen erfüllte einen jeden mit Entsetzen. Ein Gespräch konnte sich
unter solchen Umständen nicht anknüpfen,' obgleich alle Versuche, durch
das Gedränge von Wagen, Spritzen, Gerüchen und Menschen, die das
Portal erfüllten, durchzudringen, lange fruchtlos blieben^
Endlich, als das Mädchen versicherte, daß sie sich völlig erholt
habe, wagte man den entscheidenden Versuch. Beide wurden nun von
einer Masse Menschen ergriffen, welche die nämliche Absicht hatten. Sie
geriethen in die Mitte dieser immer gewaltsamer, immer ängstlicher vor¬
dringenden Masse; das Mädchen war in Gefahr, erdrückt zu werden.
Mit großer Anstrengung hob Bull sie in die Höhe, daß sie von den
Nächsten getragen wurde. Der Gewalt der vorwärts dringenden Menge
mußte jedes Hinderniß weichen, und wie ein mächtiger Strom, wenn
er, eingeengt durch Felsenwände, dann sich wieder frei bewegen kann,
nach allen Seiten sich ergießt: so zertheilte sich, wie fortgeschnellt von
elastischen Federn, der zusammengepreßte Haufen, als sie den freien Platz
erreichten. Jetzt erst waren Beide gerettet und durften sich's gestehn. Sie
eilten, sich von den; Schlosse zu entfernen; und eben wollten sie sich über
die Richtung, die zu nehmen sei, berathen: als sie ein mächtiges, lautes
Rufen um Hülfe hörten.
ar „Mein ©ott," rief das Mädchen, „er ist es!" und wandte sich,
Angst und Entsetzen in allen Zügen, nach dem Schlosse. Das Rufen
erscholl wieder, noch ängstlicher, noch stärker; und das Mädchen, als
hatte sie die Gefahren vergehen, denen sie kaum entronnen war, ohne
lene Scheu, die man bei einer so zarten weiblichen Gestalt voraussehen
mußte, drängte sich furchtlos zwischen die Menge, die durch den Ruf
herbeigezogen wurde. Bull eilte ihr nach, mit aller Anstrengung beniüht,
m %ei ^àhe zu halten. Der Ruf nach Hülfe erscholl von dem
Balkon über dem Portale. Hier sah man, fast mitten unter Flam-