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4. Wilhelm der Große, Deutscher Kaiser (1871—1888). a) Das
Deutsche Reich und seine Verfassung. Das neue Deutsche Reich bildet einen
Bundesstaat aus 26 Staaten, der dem Kaiser als dem Bundesoberhaupte
unterstellt ist. Für die innere Regierung der Staaten (Einteilung und Ver¬
waltung des Landes) gelten die Gesetze der Einzelstaaten; die Landesgesetze
dürfen aber der Reichsgesetzgebung nicht widersprechen. Die Staatsbürger
eines jeden Bundesstaates sind in jedem andern Bundesstaat zum festen
Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu öffentlichen Ämtern und zu allen andern
Rechten wie Einheimische zuzulassen. — Die Neichsversassung wurde als
Reichsgrundgesetz am 16. April 1871 verkündet. Jeder deutsche Kaiser muß
sie bei seinem Regierungsantritte beschwören.
Der Kaiser als Rcichsobcrhaupt. Deutscher Kaiser ist der jedesmalige
König von Preußen; die Würde ist im Königshanse der Hohenzollern erblich.
Er führt den Oberbefehl über Heer und Flotte und vertritt das Reich nach
außen durch die von ihm ernannten Botschafter und Gesandten. Der Kaiser
schließt Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten und entscheidet unter
Zustimmung des Bundesrates über Krieg und Frieden. Er ernennt und
entläßt die Reichsbeamten, beruft, eröffnet, vertagt und schließt den Reichs¬
tag unter Zustimmung des Bundesrates. Ferner bestätigt und verkündigt er
die Reichsgesetze, die vom Reichskanzler mitunterzeichnet sein müssen; letzterer
trägt auch die Verantwortung für dieselben. Der Kaiser ist unverletzlich, d. h.
er kann nicht gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Reichshauptstadt
ist Berlin, wo sich auch Bundesrat und Reichstag versammeln.
Der Bundesrat besteht aus 58 Vertretern der deutschen Staaten, die
von den Regierungen ernannt werden. Nach der Größe sind jedem Staate
eine Anzahl Stimmen zugeteilt; Preußen hat z. B. 17, Bayern 6, Sachsen
und Württemberg je 4 und jeder Kleinstaat je 1 Stimme. Der Bundesrat
legt dem Reichstage die Gesetzentwürfe vor und entscheidet über Annahme und
Ablehnung der Reichstagsbeschlüsse. Er entscheidet ferner über die Auflösung
des Reichstages unter Zustimmung des Kaisers und in Streitigkeiten zwischen
Bundesstaaten.
Der Reichstag besteht aus 397 Abgeordneten, die vom deutschen Volke
aus fünf Jahre gewählt werden. Ein jeder 25 Jahre alte Deutsche (mit ge¬
wissen Ausnahmen) darf wählen. Tie Wahlen sind geheim, direkt und all¬
gemein (nicht klassenweise). Der Reichstag berät die vom Bundesrate vor¬
gelegten Gesetzentwürfe, nimmt sie an, ändert sie oder lehnt sie ab. Er kann
auch selbst Anträge und Gesetzesvorlagen einbringen. — Ferner hat der Reichs¬
tag bezüglich der jährlichen Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der
Einführung von Steuern und Zöllen seine Zustimmung zu erteilen (Staats-.
Haushalt). Endlich kann er Bittschriften aus dem Volke (Petitionen) annehmen
Ter oberste Rcichsbeamte ist der Reichskanzler (der erste war Fürst
Bismarck); er führt den Vorsitz im Bundesrate und trägt die Verantwortung
für alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers, die dieser im Namen
des Reiches erläßt. Dem Reichskanzler sind 8 Reichsämter mit je einem