Full text: Nicolaisches Realienbuch

105 
4. Wilhelm der Große, Deutscher Kaiser (1871—1888). a) Das 
Deutsche Reich und seine Verfassung. Das neue Deutsche Reich bildet einen 
Bundesstaat aus 26 Staaten, der dem Kaiser als dem Bundesoberhaupte 
unterstellt ist. Für die innere Regierung der Staaten (Einteilung und Ver¬ 
waltung des Landes) gelten die Gesetze der Einzelstaaten; die Landesgesetze 
dürfen aber der Reichsgesetzgebung nicht widersprechen. Die Staatsbürger 
eines jeden Bundesstaates sind in jedem andern Bundesstaat zum festen 
Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu öffentlichen Ämtern und zu allen andern 
Rechten wie Einheimische zuzulassen. — Die Neichsversassung wurde als 
Reichsgrundgesetz am 16. April 1871 verkündet. Jeder deutsche Kaiser muß 
sie bei seinem Regierungsantritte beschwören. 
Der Kaiser als Rcichsobcrhaupt. Deutscher Kaiser ist der jedesmalige 
König von Preußen; die Würde ist im Königshanse der Hohenzollern erblich. 
Er führt den Oberbefehl über Heer und Flotte und vertritt das Reich nach 
außen durch die von ihm ernannten Botschafter und Gesandten. Der Kaiser 
schließt Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten und entscheidet unter 
Zustimmung des Bundesrates über Krieg und Frieden. Er ernennt und 
entläßt die Reichsbeamten, beruft, eröffnet, vertagt und schließt den Reichs¬ 
tag unter Zustimmung des Bundesrates. Ferner bestätigt und verkündigt er 
die Reichsgesetze, die vom Reichskanzler mitunterzeichnet sein müssen; letzterer 
trägt auch die Verantwortung für dieselben. Der Kaiser ist unverletzlich, d. h. 
er kann nicht gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Reichshauptstadt 
ist Berlin, wo sich auch Bundesrat und Reichstag versammeln. 
Der Bundesrat besteht aus 58 Vertretern der deutschen Staaten, die 
von den Regierungen ernannt werden. Nach der Größe sind jedem Staate 
eine Anzahl Stimmen zugeteilt; Preußen hat z. B. 17, Bayern 6, Sachsen 
und Württemberg je 4 und jeder Kleinstaat je 1 Stimme. Der Bundesrat 
legt dem Reichstage die Gesetzentwürfe vor und entscheidet über Annahme und 
Ablehnung der Reichstagsbeschlüsse. Er entscheidet ferner über die Auflösung 
des Reichstages unter Zustimmung des Kaisers und in Streitigkeiten zwischen 
Bundesstaaten. 
Der Reichstag besteht aus 397 Abgeordneten, die vom deutschen Volke 
aus fünf Jahre gewählt werden. Ein jeder 25 Jahre alte Deutsche (mit ge¬ 
wissen Ausnahmen) darf wählen. Tie Wahlen sind geheim, direkt und all¬ 
gemein (nicht klassenweise). Der Reichstag berät die vom Bundesrate vor¬ 
gelegten Gesetzentwürfe, nimmt sie an, ändert sie oder lehnt sie ab. Er kann 
auch selbst Anträge und Gesetzesvorlagen einbringen. — Ferner hat der Reichs¬ 
tag bezüglich der jährlichen Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der 
Einführung von Steuern und Zöllen seine Zustimmung zu erteilen (Staats-. 
Haushalt). Endlich kann er Bittschriften aus dem Volke (Petitionen) annehmen 
Ter oberste Rcichsbeamte ist der Reichskanzler (der erste war Fürst 
Bismarck); er führt den Vorsitz im Bundesrate und trägt die Verantwortung 
für alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers, die dieser im Namen 
des Reiches erläßt. Dem Reichskanzler sind 8 Reichsämter mit je einem
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.