71. London.
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zerlumpten Gestalten während des Tages unterschlüpfen, weiß oft nicht einmal
die Polizei.
Die Atmosphäre Londons behagt dem Fremden wenig. Kohlenstaub und
Rauch belästigen fortwährend seine Kehle und Nase. Der Ruß fällt als feiner
Regen auf die Menschen und Dinge nieder. Die Hänser sind davon mit einer
schwarzen Kruste überzogen, und die blendendste Wäsche ist schon nach einer
Stunde in üblem Zustande. k
Weitere und bequemere Räume als die enge City zeigt das „Westend",
der Stadtteil mit den Wohnungen der Aristokratie Londons, der „oberen
Zehntausend". Und wie gesund wohnt sich's hier! Denn außer zahlreichen
grünen Plätzen finden sich hier weitgedehnte Parkanlagen, die man bezeichnend
die Lungen von London genannt hat, noch mitten in der Stadt. Doch tragen
sie alle — der Jamespark, Greenpark, Hydepark uud die Kensington Gardens —
einen mehr aristokratischen Anstrich, während der im Nordwesten der City
gelegene Regentspark vorherrschend von den Mittelklassen besucht wird, und
in den entfernteren. Parks (z B. dem Victoriaparke) auch die niederen Volks-
klassen zu ihrem Rechte kommeu. In diesen schönen Anlagen (Parks) mit den
herrlichen Grasflächen und Banmgrnppen giebt es keine „verbotenen" Räume.
Jedermann wandert, wo er will, über den grünen Rasen dahin, lagert sich,
wo er will, unter schattenspendenden Bäumen. Nach dem Regentsparke, der auch
den zoologischen und botanischen Garten enthält, ist der Hydepark der größte.
Wie herrlich ist eine Wanderung durch diesen schönen Park! Auf saftiggrünen
Wiesen weiden hinter lebendigen Hecken Schafherden; reinliche Kiespfade und
dichte Alleen hundertjähriger Bäume durchschneiden überall die Rasenflächen;
mit den Wiesenflächen wechseln Wasserspiegel, auf welchen leichte Ruderboote
umherschießen, ausländische Wasservögel lärmen und weiße Schwäne ihre stillen
Kreise ziehen; in dem Buschwerke sanft ansteigender Hügel schlägt die Nach-
tigall. An anderen Stellen erfreut sich das Auge an einem Teppiche ent-
zückender Blumenbeete; auf founigen Rasenflächen spielen Hunderte geputzter,
schöner Kinder unter der Aufsicht von Kindermädchen und Erzieherinnen; stille
verlassene Laubgänge und geheimnisvolle Haine laden den Wanderer ein, sich
auf den daselbst aufgestellten bequemen Bänken niederzulassen. Am südlichen
Saume diefes schönen Parks zieht sich Rotten-Row hin, eine breite, von
mächtigen Bäumen eingefaßte Reit- und Fahrstraße, auf der sich täglich zwei-
mal das vornehme und reiche London in feiner ganzen Pracht zur Schau
stellt. Neben und zwischen den Wagen und auf Parallelstraßeu tummeln sich
stolze Reiter und fchöne Reiterinnen. Wer die englische Aristokratie, die
stolzeste, mächtigste und reichste der Welt, studieren will, kann es hier am
besten. Wie stolz und steinern fitzen diese Leute in ihren festen, schwerfälligen
Fahrzeugen, welche doch dabei die gediegenste Pracht zeigen! Mit halbgeöffneten