Full text: Lesebuch für ein- und zweiklassige Volksschulen

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dem aufsteigenden Lichte entgegen und begrübst den Herrn 
der Schöpfung. Aber ihr Gebet ist stumm; der Mensch feiert 
und ist still mit der feiernden, stillen Natur. Nichts hört man 
als die Stimme des Kameltreibers oder das Getön der Glöckchen, 
mit denen er sein Tier behängt. Höher erhebt sich die Sonne; 
ihre Glut strahlt herab und wieder von der Erde zurück. Der 
Treiber geht im Schatten des gleichmässig fortschreitenden 
Kamels einher, lobt es als sein bestes Tier und singt ihm 
Lieder vor. Das horchende Tier presst die Kinnladen zusammen, 
knirscht mit den Zähnen und dreht den Kopf nach dem 
Sänger hin, dem es dankbar die Hand leckt. Jede Ermüdung 
ist vergessen, und trotz seiner Bürde legt es unglaubliche 
Strecken zurück. 
2. Es ist Mittag. Die Sonne scheint senkrecht vom Himmel 
und drückt mit unbeschreiblicher Schwere auf Mensch und 
Tier. Die Beduinen haben sich dichter in ihren Burnus gehüllt; 
zusammengekauert sitzen sie auf ihren Pferden und Dromedaren, 
Lanze und Säbel über den Sattelknopf geworfen. Die Treiber 
schleichen matt neben den Kamelen. Das Knistern des unter 
den Füssen der Tiere zusammenrieselnden Sandes ist der einzige 
Laut in der unendlichen, glühenden Weite. Umsonst sucht das 
Auge nach einer Spur des Lebens. Da ist nirgends Baum noch 
Strauch, nirgends selbst nur ein Schimmer dürftiger Hahne. 
Grabhügel und Gebeine, Tod und Verwesung in allen Gestalten 
sind die einzigen Spuren der Hunderte und Tausende, die diese 
Strassen der Schrecken zogen. Langsam kreist der Aasgeier in 
den Lüften; der Schakal schleicht lauernd hinter den Sandbergen 
hervor: sie machen Jagd auf Leichen. Die Karawane lechzt; 
denn schon sind die Wasserschläuche geleert, und die Kamele 
haben den letzten aufgesparten Trunk aus der schwammigen 
Kammer des Magens heraufgepresst, die Zunge zu feuchten. 
Es ist der fünfte Tag seit der letzten Tränke; die Durstzeit 
muss enden, wenn nicht Tier und Mensch erliegen sollen. Plötz¬ 
lich dämmert ein dunkler Streifen auf — die Spiegelung! Ein 
Strom, ein Meer rollt seine Wellen; schlanke Stämme steigen 
empor und wiegen ihre Kronen, Mauern mit flatternden Fahnen, 
friedliche Hütten, sonnige Gärten! Alles, was das fiebernde Hirn 
sich ausmalt, da liegt und ragt es in die Luft! Wehe dem 
Reisenden, der dem lockenden Gebilde folgen, der seinen Durst
	        
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