Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands

221 
erst zu der Zeit der Minnesänger. Der Spruch des Psalmisten: „wessen 
Herz sröhlich ist, der singe Psalmen," erhielt seine volle Geltung. 
Auch in der bildenden Kunst sehen wir erst die Versuche und 
Anfänge zu einer, der Volkseigenthümlichkeit zusagenden Kunstform durch¬ 
dringen. In der Baukunst galt der römische und griechische Styl 
lange als einziges Muster, doch begann schon der hohe Geist des Mittel¬ 
alters aus der fremden, angenommenen Form in Spitzbogen, gothischen 
Giebeln und Thürmen mächtig emporzustreben. Den wachsenden Reich¬ 
thum in Deutschland zeigten die zahlreicheren und stets in'S Großartigere 
gehenden Bauwerke. Zu Konrad's und Heinrich II. Zeit wollte man 
schon nicht mehr für das Bedürfniß des Augenblicks, sondern für Reihen 
von Jahrhunderten bauen. Man machte die Pläne in der Art, daß ein 
Menschenalter zu deren Ausführung nicht hinreichen konnte. Die größeren 
Bauten des zehnten Jahrhunderts gehörten größtentheils den sächsischen 
Ländern an; dann aber erhoben sich riesenhafte Prachtbauten gleicherweise 
am Rhein und Main, in Schwaben und Baiern. „Eine wahre Bauwuth 
hatte um die Mitte des elften Jahrhunderts die Bischöfe befallen;" wo 
sie hölzerne Kirchen fanden, bauten sie steinerne, ihre Pfalzen wurden 
größer und prächtiger, die Städte befestigten sie mit starken Mauern und 
Thürmen; sie wetteiferten in dieser Beziehung mit den Kaisern, zur Ehre 
Gottes und zu ihrer eigenen Ehre und zum Schmuck der deutschen Gauen. 
Die Malerei zeigte sich in ihren Anfängen zur Ausschmückung von 
Kirchen; die Künste aber, welche mit dem Gewerbe am nächsten in 
Verbindung stehen, standen in hoher Vollendung. Schnitzwerk, Gold-, 
Silber- und Elfenbeinarbeiten, Schmuckwerk, künstliche Gefäße, kostbare 
Gewebe wurden mit unnachahmlicher Pracht und Zierlichkeit gefertigt. 
Auch in dieser Beziehung nennt die Geschichte zwei Geistliche als besondere 
Förderer und Beschützer des Kunst- und Gewerbfleißes, Mein werk, 
Bischof von Paderborn, und Bernward von Hildesheim. 
Eine solche Strebsamkeit mußte nothwendig Handel und Verkehr in 
hohem Maße steigern. In den Städten erhob sich reges Leben, es bildeten 
sich Kaufmannschaften für den in- und ausländischen Handel. Die Ver¬ 
bindung mit Italien, wo die reichsten Schätze der alten Kultur nieder¬ 
gelegt waren, blieb noch immer die erste Hülfsquelle für die vermehrten 
Bedürfnisse. Anders aber sah es auf dem Lande aus, und wohl hatte 
das Volk mit Recht über Vieles zu klagen. Die Siege der Kaiser brachten 
dem Landmann wenig Gewinn; die herrschaftlichen Bauten wurden durch 
den Frohndienst des armen Landvolkes aufgeführt, und ob sie auch um 
dieser Lasten willen die Arbeit auf ihrem eigenen Felde vernachlässigen 
mußten, der Zins wurde ihnen nicht erlassen. „Mit dem Schweiße der 
Armuth wurden die stattlichen Kirchen erbaut, und während der Glanz 
des Reiches in höchster Blüthe strahlte, verbreiteten Mißerndten und an¬ 
steckende Krankheiten Elend und Unheil in den niedersten Schichten des
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.