Full text: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

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Ein einsamer Mann schritt eilig auf dem schmalen, grasbewachsenen 
Fußpfade vorwärts. Er war noch jung. Ein leichter Flaum sproßte 
über den frischen Lippen, und die hellgrauen Augen blitzten unternehmend 
und sorglos in die Welt. 
Ein lustiges Lied vor sich hinträllernd, achtete er wenig auf seine 
Umgebung; er sah weder rechts noch links; er bemerkte es auch nicht, 
daß die zuerst vereinzelt stehenden Sträucher und Bäume einander immer 
näher rückten. 
Plötzlich blieb er stehen. Die Pfade kreuzten sich nach verschiedenen 
Richtungen, und gerade vor ihm erhob sich ein dichter Wald. Überlegend 
sah er um sich. Weißer Nebel stieg aus den Wiesen hinter ihm; der 
Mond war aufgegangen und goß sein bleiches Silberlicht über die Berge; 
schwarz und schweigend stand der Wald da. 
Sollte er eintreten? Einen Augenblick besann er sich. Dann warf 
er trotzig seinen Kopf zurück und schritt vorwärts, zuerst vorsichtig, dann 
rascher. Immer tiefer drang er ein. Gespenstig drohend streckten die 
hohen Bäume ihre Äste gen Himmel. Der zuerst ziemlich breite Weg 
wurde immer schmäler. Kaum mehr dem Auge erkennbar, schlängelte er 
sich zwischen dem Buschwerk dahin. 
Der Jüngling mochte wohl mehrere Stunden so gegangen sein; 
Hunger und Müdigkeit drohten, ihn zu übermannen. Immer langsamer 
wurden seine Schritte, bis er endlich ganz stehen blieb. Er konnte nicht 
mehr vorwärts. Gerade vor ihm, quer über dem Weg, lag ein vom 
Sturme entwurzelter Stamm. Erschöpft ließ er sich auf diesen nieder, 
es war ihm unmöglich, weiter zu marschieren. Nachdem er eine Zeitlang 
geruht hatte, raffte er sich empor und eilte wieder zurück auf dem Wege, 
den er hergekommen war. Eine plötzliche, ihm sonst ganz ungewohnte 
Angst hatte ihn überfallen. „Nur fort, nur heraus aus diesem Walde," 
dachte er, „ganz gleich, wohin." Trotz seiner Ermattung lief er vorwärts, 
so schnell ihn die Beine trugen, einmal auf diesem, dann wieder auf jenem 
Wege. Aber zu seinem größten Schrecken gewahrte er, daß er immer 
wieder an den Ort zurückkehrte, von dem er ausgegangen war. Ver¬ 
zweifelnd warf er sich nieder, vergrub das Gesicht in beide Hände, schluchzte 
und rief laut um Hilfe. Als er wieder emporsah, schrak er zusammen, 
denn vor ihm standen drei Männer. 
Der eine trug ein prächtiges, reich mit Gold gesticktes Gewand, das 
von einem glänzenden, mit Edelsteinen geschmückten Gürtel zusammen¬ 
gehalten war. Der zweite hatte ein schwarzes Kleid mit rotem Gürtel 
und der dritte ein blaues Hemd und einen einfachen Ledergurt. In der 
nervigen Faust hielt er eine schwere Axt. 
„Was tust du hier?" fragten ihn die drei. — „Erbarmt Euch meiner, 
ich verschmachte. Sagt mir, wo ich eigentlich bin." — „Du bist im Walde 
des Elends", gaben sie zur Antwort. — „Helft mir, rettet mich, führt 
mich hinaus aus dieser entsetzlichen Wildnis", flehte er sie au. — „Wähle 
einen von uns, der dich führen soll."
	        
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