oder in einer Versammlung, dann meinen sie, sie könnten
sich anders benehmen, als wenn wenige in einer Gesell¬
schaft zusammen sind. Und mir scheint immer, das kommt
davon her, weil in der Gesellschaft jeder für sich selbst ver¬
antwortlich ist; jeder weiß, wenn er irgend etwas sagt oder
tut, was nicht recht anständig ist, dann sehen ihn gleich alle
Leute an, und alle wissen: der ist's gewesen. Wenn aber so
viele zusammen sind und da einer heult oder schreit, oder wie's
meistens kommt, wenn da mehrere heulen oder schreien, dann
denkt jeder, daß die meisten gar nicht merken werden, wer's ge¬
wesen ist. Und so merkt jeder nicht so genau, daß er doch immer
für das, was er selber tut, verantwortlich ist. Also soviel ist ge¬
wiß, und ich meine, das muß jeder zugeben, der jemals in einer
Versammlung gewesen ist, daß die Menschen in solchen Versamm¬
lungen viel weniger sich selber beherrschen, als sie es sonst tun,
wenn sie allein sind oder mit wenigen andern Menschen zusammen.
Und darum habe ich mich immer gewundert, wie es Leute geben
kann, die da meinen, von solchen Versammlungen könnten
große Reiche regiert werden. Ich meine immer: wer ein großes
Reich regieren will, der muß vor allen Dingen s i ch
selber beherrschen können. Aber darüber sind ja nun die
Meinungen veschieden.
Sehr lange bin ich übrigens nicht in der Zimmerstraße ge¬
wesen. Ich sah, daß in ein paar wichtigen Wahlkreisen der
Sozialdemokrat nicht gewählt war, sondern der Gegner, und meh¬
rere Herren, die um mich herumstanden, waren schon längere Zeit
dagewesen, und einer davon hatte eine große Liste bei sich, da
standen alle die Wahlkreise drauf, die früher Sozialdemokraten
gewählt hatten; und jedesmal, wenn so ein Wahlkreis diesmal
einen andern Abgeordneten gewählt hatte, dann machte er eine
große Null durch den Namen vom Wahlkreis. Und so wußte
er immer ganz genau, wieviele Mandate die Sozialdemokraten
schon verloren hatten, und er sagte — nicht zu mir, sondern zu
andern, die bei ihm standen — die Sozialdemokraten hätten nun
schon über 40 Mandate verloren. Im ganzen haben sie nämlich
44 Wahlkreise verloren, die sie früher gehabt haben, aber dafür
haben sie doch noch 8 neue gewonnen, die sie früher nicht gehabt
haben, so daß sie im ganzen 36 Mandate weniger haben, als
sie zuletzt im vorigen Reichstag hatten. Denn im vorigen Reichs¬
tag hatten sie bei den Nachwahlen auch schon ein paar Mandate
verloren, und von den mehr als 80, die sie gehabt hatten, waren
7
97