Full text: Lesebuch für staatsbürgerliche Bildung

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Unser deutsches Vaterland. 
kultur der Menschheit vorkommt. Es sei gestattet, dies mit ein paar Strichen 
auszuführen. 
Wie Deutschland in geographischer Beziehung das Land der Mitte ist, so 
ist es auch in kultureller Hinsicht die Mitte Europas. Die Rolle des Vermittlers 
zwischen Westen und Osten, zwischen Süden und Norden, die ihm von der Natur 
zugeteilt ist, die es in Hinsicht auf den wirtschaftlichen und persönlichen Verkehr 
jetzt in beständig steigendem Maße übt, diese Rolle hat es in Absicht auf die 
Vermittlung der geistigen Güter seit Jahrhunderten gespielt. Es hat Fremdes 
aufgenommen und in sich verarbeitet und es hat Empfangenes und aus dem 
Eigenen Erzeugtes weitergegeben wie kein anderes mitlebendes Volk. Kein großes 
Volk ist jemals fremden Kultureinflüsfen so aufgeschlossen gewesen wie das deutsche. 
Wie das Land selbst fast nach allen Seiten mit offenen Grenzen daliegt, so hat 
sich das Volk stets in erstaunlichem Maße für fremde Geisteskultur aufnahme¬ 
fähig und willig erwiesen, hin und wieder bis zur Gefahr des Selbstverlustes. 
Die Dinge sind aller Welt bekannt, doch erinnere ich an ein paar Punkte. 
Gegen Italien ist Deutschland durch Naturgrenzen am meisten abgeschlossen; 
durch geschichtliche Beziehungen ist es mit ihm am längsten und zeitweilig am 
engsten verbunden. Im Mittelalter schienen Kirche und Kaisertum bestimmt, 
beide Länder in ein Reich zu vereinigen. Noch in der Renaissance wirkte diese 
Einheitstendenz nach: in keinem Lande ist diese mächtige und eigenste Bewegung 
des italienischen Geistes bereitwilliger aufgenommen worden und tiefer einge¬ 
drungen als in Deutschland. Auch das Römische Recht, das mit der Renaissance¬ 
bildung seinen Einzug hielt, hat sich nirgends so wie in Deutschland als geltendes 
Recht eingelebt: ein Zeugnis der politischen Schwäche, aber zugleich ein Zeugnis 
der Geltung gelehrter Erkenntnis. 
Im 17. Jahrhundert beginnt die französische Bildung ihre siegceiche Lauf¬ 
bahn. Das ganze 17. und 18. Jahrhundert hindurch sind ihr in Deutschland 
alle Pforten weit aufgetan. Französische Sprache und Literatur erlangen in der 
deutschen Gesellschaft eine fast unbedingte Herrschaft. Sind auch für uns schmerz¬ 
liche Erinnerungen damit verbunden, so wollen wir doch das gute alte Wort des 
Hesiod nicht vergessen, daß freilich die Palme dem gebührt, der selber jegliches 
sieht und schafft, daß aber auch der zu loben ist, der von dem Überlegenen zu 
lernen weiß: nur der taugt nichts, der selbst nichts weiß und auch nichts lernen 
will. Wie bildungsfreudig das Deutsche damals von dem vorangeeilten Nach¬ 
barvolk lernte, dafür sind zwei in ewigem Jugendglanz leuchtende Gestalten des 
18. Jahrhunderts uns Zeugen: Friedrich der Große und Goethe. 
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt daneben englischer Einfluß 
einzuströmen. War die höfische Welt vorzugsweise das Organ gewesen, womit 
das deutsche Volk die Einflüsse der französischen und italienischen Bildung und 
Kunst aufgenommen hatte, so war es das neue erstarkende Bürgertum, das zuerst 
den Wert der Literatur und Philosophie des stammverwandten englischen Volkes 
empfand, Wieland und Lessing, Kant und Herder an der Spitze. Gleichzeitig
	        
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