194 Zweiter Teil. Die Rechte und Pflichten der Volljährigen.
Bei den Landgerichten treten neben den Strafkammern zur Aburteilung der
schwersten Verbrechen die Schwurgerichte periodisch zusammen, die mit drei Richtern
und zwölf Geschworenen besetzt sind; letzteren steht nur die Entscheidung über die Schuld¬
frage zu, auf die Festsetzung der Art und die Höhe der Strafe haben sie keinen Einfluß,
darüber haben allein die Richter zu befinden. Die Geschworenen werden aus
der vom Vorstande der Gemeinde aufgestellten und für die Wahl zum Schöffenamte
maßgebenden Urliste in die sogenannte Vorschlagsliste eingetragen, aus welcher die
Jahresliste festgestellt wird; auf Grund derselben werden 30 Geschworene ausgelost
und in die Spruchliste eingetragen, aus welcher vor Beginn jeder Sitzung zwölf Ge¬
schworene durch das Los bestimmt werden. Dabei können vom Staatsanwalt und vom
Angeklagten oder seinem Verteidiger einzelne Geschworene abgelehnt werden. Ist
die Geschworenenbank gebildet, so kann in die Verhandlung eingetreten werden.
Nach der Beweisaufnahme beginnen die Plaidoyers des Staatsanwaltes und des
Verteidigers. Daraufhin werden die Geschworenen vom Vorsitzenden rechtlich belehrt
und ziehen sich zur Beratung zurück. Sie haben allein über die Schuldfrage und über
Zubilligung mildernder Umstünde zu beraten. Wenn acht Geschworene für „schuldig"
gestimmt haben, so wird der Angeklagte verurteilt, sonst freigesprochen. Eine Zubilligung
mildernder Umstände erfolgt, wenn nicht sieben Geschworene dagegen gestimmt haben.
Die Strafsenate bei den Oberlandesgerichten sind die Revisionsinstanz für alle straf¬
baren Handlungen, die in erster Instanz von den Schöffengerichten, in zweiter Instanz
von den Strafkammern entschieden sind. Sie treten als Revisionsinstanz für die von
den Strafkammern entschiedenen strafbaren Handlungen auf bei Verletzung von
Landesgesetzen. (Reichsgericht S. 179.)
Die Staatsanwaltschaft. Bei jedem Gerichte besteht eine Staatsanwaltschaft.
So finden wir bei den Amts-(Schöffen-) gerichten den Amtsanwalt, bei den Schwur-,
Land- und Oberlandesgerichten den Staatsanwalt und beim Reichsgericht den Reichs¬
anwalt, die man zu den nichtrichterlichen Justizbeamten rechnet. Mit Ausnahme
des Amtsanwaltes müssen sie die Befähigung zur Bekleidung des Richteramtes
besitzen.
Der Strafantrag. Leichtere strafbare Handlungen (Hausfriedensbruch, Körper¬
verletzung, Beleidigung) werden nur verfolgt, wenn ein darauf bezüglicher Antrag
in der Zeit von drei Monaten bei der Staatsanwaltschaft, dem Amtsgerichte oder der
Polizei erfolgt. Ist der Verletzte noch minderjährig, so ist der gesetzliche Vertreter
dazu verpflichtet; Minderjährige, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, können einen
derartigen Antrag allein stellen. Jeder, der von einer strafbaren Handlung Kenntnis
erhält, kann bei den obengenannten Stellen dieselbe mündlich oder schriftlich zur An¬
zeige bringen, und immer muß der Staatsanwaltschaft davon Mitteilung gemacht
werden, auch wenn sie beim Amtsgerichte oder bei der Polizei erfolgt.
Beispiel: Hiermit bringe ich zur Anzeige, daß der Maurer Franz Lehmann,
wohnhaft Bernauerstr. 31, sein Kind Ernst derartig geschlagen hat,
daß es unfähig war, am folgenden Tage die Schule zu besuchen. Sein
Gesicht war mit dicken, blutunterlaufenen Striemen bedeckt.
Ich beantrage sofortige Bestrafung des Lehmann wegen Mißhand¬
lung seines Kindes.
Berlin, den 1. Februar 1901. Paul Roth,
Bernauerstr. 31.