Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

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Neue und neuste Zeit. 
vergißt er des Jagens Lust: „Ich schell' mein Horn ins Jammerthal, mein Freud' ist mir ver¬ 
schwunden; ich hab' gejagt, muß abelan (ablassen), das Wild läuft vor den Hunden." 
Unter den „Bergreihen" sind verhältnismäßig wenig Lieder, die das Leben der Bergknappen, 
der „guten Berggesellen", selbst besingen: so enthält die reichste Sammlung solcher „Bergreihen" 
aus dem dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts („Etliche hübsche Bergreihen, geistlich und weltlich 
zusammengebracht") vorwiegend Volkslieder allgemeinen Inhalts: Liebeslieder, Reiterlieder, Trink¬ 
lieder, historische Lieder und nicht wenig religiöse Lieder. Die eigentlichen Bergreihen'preisen 
Leben und Beruf des Bergmannes, sie rühmen ihn selbst als „eine edle Zier", ohne den die Welt 
nicht bestehen, kein Stand, vom König bis zum Schneider, seine Arbeiten ausführen könnte. 
Ein Bergreihen aus dem sächsischen Erzgebirge erzählt von einem blutigen Zusammenstoß 
„guter Berggesellen vom Kuttenberg" mit böhmischen Bauern und Städtern um weniger Schoten 
willen, welche vier Berggesellen genommen, und für die sie reichliche Geldbuße versprachen. Vierte¬ 
halbhundert Bürger werden erstochen, viele kommen in den brennenden Häusern um. Das Lied 
ist ein schönes Zeugnis für das treue Zusammenhalten der „guten Berggesellen"; denn als die 
Kunde von der Erschlagung dreier Knappen durch die Bauern nach dem Kuttenberg gelangte, ruft 
der Bergmeister seine Knappen: „Liebe Gesellen, folgt mir hinten nach! — Wir wollen dem 
Schulzen in die Schoten gehen! — Wohl allzuhand —"an ihm wollen wir uns rächen!" und als 
die Gesellen von Hunger und Blutarbeit müde werden, da heißt es im Liede gebeisweise: „Hilf, 
reicher Gott! — halt uns die Heuer in Hute!" Des Königs Entscheid aber,' der angerufen ist, 
lautet: „Ihr sollt mir die Heuer zufrieden lan — sie haben noch alle meinen Willen'gethan — 
die guten Berggesellen." 
Ein nicht geringes Bewußtsein ihres Wertes und ihrer Bedeutung spricht sich auch in den Liedern 
der Handwerker aus, so in denen der Weber, >vie das unten aufgenommene Weberlied beweist. 
So lassen ganze Gruppen von Liedern ihren Ursprung und ihre Bestinimung deutlich erkennen: 
bei den historischen Volksliedern, zu denen in erster Linie auch die Landsknecht- und Reiterlieder, 
ja zum Teil auch die Bergreihen gehören, ist der Schauplatz nicht bloß genannt, sondern die 
handelnden Personen tragen in ihrer Sprache, in ihrer Art zu denken und zu fühlen, ganz den 
Charakter der bestimmten Landschaft. Einige Andeutungen mögen genügen. 
Das weichere und tiefere Gefühl und das Bedürfnis, dieses Gefühl auch nach außen kund zu 
thun, besitzt der Süddeutsche in einem stärkeren Grade als der Norddeutsche; ganz deutlich ist das 
zu erkennen in den Liedern süddeutschen Ursprungs. Wie rührend klingt die Klage des jungen 
Knaben im „Schloß in Österreich", der „vierzig Klafter tief unter der Erd' bei Ratten und bei 
Schlangen gefangen liegt!" Der durch Verrat gefangene Lindenschmid klagt seine Not „Gott im 
Himmel und seiner werten Mutter" — und er ist doch ein Mann im reiferen Alter. In er¬ 
greifender Weise gelangt der Schmerz des Vaters um den gefangenen Sohn wiederum im „Schloß 
in Österreich" zum Ausdruck; wie tief und reich aber selbst des Raubritters Vaterliebe ist, zeigt 
der Lindenschmid, der alle Schuld des eingefangenen Sohnes auf sich nimmt und allein auch für 
ihn die Strafe erleiden will. Charakteristisch ist für den Süddeutschen vor allem die innige Liebe 
zur Mutter, selbst wenn diese längst im Grabe ruht; diesen Zug finden wir an dem „jungen 
Knaben" in Österreich, der nicht um seinen frühen Tod klagt, sondern um den Schmerz, den darum 
feine „Frau Mutter daheim" erleiden muß. Ganz wunderbar klingt im Munde des in die Gewalt 
der Nürnberger gefallenen Raubritters Eppelin von Gailingen, der nun für zahllose Übelthaten 
verdienten Lohn empfangen soll, die Klage: 
„So liegt meine Mutter am Rhein, ist tot, 
darum muß ich leiden große Not." — 
Ein echt thüringisches oder sächsisches Gepräge trägt das Lied vom sächsischen Prinzenraub 
(D, 2); aus jeder Zeile giebt sich die diesem Volksstamme angeborene Anhänglichkeit an ihr vor¬ 
treffliches Fürstenhaus kund, die sich so oft in der Geschichte glänzend bewährt hat. Auffällig ist 
die große Zahl von Redewendungen und Ausdrücken, die heute noch in Sachsen und Thüringen 
gäng und gäbe sind: ufn = auf den, gesungen = gefunden, weil = wahrlich, Wibbelt und kribbelt 
= es bewegt sich lebhaft durcheinander, he = er, ganzbeinicht = unversehrt. 
Allen Volksliedern, mögen sie nun besondere „gute Gesellenliedlein" oder Lieder allgemeinen 
Inhaltes sein, ist ein hoher Vorzug eigen: sie sind nicht absichtlich und künstlich erdacht und ge¬ 
macht, sondern sind Ergüsse des warm empfindenden Menschenherzens, das durch die „Sturmwinde 
des Lebens" in seinen Tiefen bewegt ist. „Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden und 
das Herz öffnen und den Grund herausschütten." (Luther). Wahr und echt wie die zum Ausdruck 
gebrachten Empfindungen ist auch die Sprache, der Ausdruck. Da ist nichts Gesuchtes, nichts 
Gekünsteltes, schlicht und einfach, wie das Volk unter sich spricht, oft derb, aber niemals roh, bewegt 
sich der Ausdruck; dem Inhalt des Liedes, der Lage der auftretenden Person entsprechend ist die 
Sprache bald kühn und kräftig, bald lieblich und herzbewegend, immer den Gefühlen entsprechend, 
die ausgesprochen werden sollen. Gefühle und Ausdruck kommen von Herzen und darum gehen 
sie auch zu Herzen. Dies letztere aber wird so recht eigentlich erst erreicht durch die Melodie, 
welche vom wahren Volkslied ganz untrennbar ist. „Nicht gesungene Volkslieder," sagt Vilmar, 
„sind halbe Volkslieder oder gar keine." Denselben Gedanken hatte lange zuvor schon Herder, 
der uns den Quell des Volksliedes wieder hat erschließen helfen, in der Vorrede zu den Volks¬ 
liedern (1779) ausgesprochen: „Das Wesen des Liedes ist Gesang." — „Seine Vollkommenheit 
liegt im melodischen Gang der Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck Weise 
nennen könnte; fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, so ist es kein Lied mehr." „Hätte ein 
Lied von guter Weise einzelne merkliche Fehler, die Fehler verlieren sich, die schlechten Strophen
	        
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