B. III. B. 4. Gottfried Keller.
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d) Keller an Storni. 31 Dezember 1877.
. . . Es ist mir, wenn ich von dergleichen (den beiderseitigen Dichtungen)
an Sie schreibe, nicht zumute, als ob ich von literarischen Dingen spräche, son¬
dern eher wie einem ältlichen Klosterherrn, der einem Freunde in einer anderen 5
Abtei von den gesprenkelten Nelkenstöcken schreibt, die sie, jeder an seinem Orte,
züchten. ...
Anhang.
Die Leute von Seldwyla (1856, Werke, 4. und 5. Band.).
Von Jakob Baechtold (G. Kellers Leben II.). 10
Wo ist Seldwyla? In jeder Stadt und in jedem Tale der Schweiz
rage ein Türmchen von Seldwyla — lautet die Antwort des Dichters.
Es sei mithin eine Zusammenstellung solcher Türmchen, eine ideale Stadt,
auf Bergnebel gemalt und mit ihm weiterziehend, vielleicht über die
Grenzen des lieben Vaterlandes hinaus. Warum vergißt man diese Ge- is
schichten nie mehr, wenn man sie einmal gelesen? Das tut nicht die un¬
gewöhnliche Begebenheit, die sogenannte spannende, aufregende Erzäh¬
lung, und doch ist etwas ganz Unerhörtes, Unvergeßbares daran. „Romeo
und Julia auf dem Dorfe", dieses Juwel novellistischer Kunst, „Die drei
gerechten Kammacher", ein Prachtstück grotesken, grausigen Humors, 20
brauchen bloß genannt zu werden. Es ist die tüchtige Ursprünglichkeit,
die unverwelklich frische Farbengebung, die machtvolle Charakteristik und
ein Humor, der, gerne als lösende und beschichtigende Kontrastwirkung
angebracht, spezifisch Gottfried Kellersches Eigengewächs vorstellt: trocken,
drollig, phantastisch, schalkhaft, barock, karrikierend, ingrimmig, ausbün- 2s
dig, närrisch. Erfunden sind diese Schwänke oft so toll, sagt ein Kritiker,
als hätte gar nicht ein einzelner Mann sie ersonnen, sondern ein lustiges
Geschlecht jahrelang an ihrer köstlichen Narrheit gearbeitet. Trotz aller
Knappheit überall die behaglich epische Darstellungsweise. Ganz eigen¬
artig ist die Sprache: nicht alt, nicht neu, in natürlicher Anmut dahin- 30
fließend, durch ihre edle Einfachheit immer die größten Wirkungen her¬
vorrufend.
Eines sei besonders betont: das ist die Demut und Schlichtheit des
Dichters in der Wahl seiner Stoffe. Denn es gehört zu den tiefsten Offen¬
barungen der Kunst, daß uns zur Anschauung gebracht wird, wie das 35
Gewöhnliche, das Ewiggestrige stets auch das wahrhaft Poetische ist. Gott¬
fried Keller bedarf nicht der Großen dieser Erde, um an ihnen ein Schicksal
zu vollziehen; seine Gestalten holt er sich aus dem Volk und greift oft
tief hinunter; aber er versteht es, den Geringsten menschlich und durch
seine Kunst zu heben. Selbst den moralisch Gesunkenen läßt er nie ganz 40
fallen, da sogar „jedes Unwesen noch mit einem goldenen Bändchen an
die Menschlichkeit gebunden ist". „Selbst die Seele des Lasterhaften" —
sagt er so schön — „reibt sich vor Vergnügen ihre unsichtbaren dunkeln
Hände, wenn sie sich überzeugt, daß andere für sie gut und tugendhaft
sind." ...
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