Über die Grenzen der Malerei und Poesie. 227
Zug und weist uns die ehernen acht Speichen, die goldenen Felgen, die
Schienen von Erz, die silberne Nabe, alles insbesondere. Man sollte
sagen, da der Räder mehr als eines war, so mußte in der Beschreibung
ebensoviel Zeit mehr auf sie gehen, als ihre besondere Anlegung deren
in der Natur selbst mehr erforderte.
Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß
sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück vor Stück
umtun, das weiche Unterkleid, den großen Mantel, die schönen Halbstiefel,
den Degen; und so ist er fertig und ergreift das Zepter. Wir sehen die
Kleider, indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malt; ein anderer
würde die Kleider bis auf die geringste Franse gemalt haben, und von
der Handlung hätten wir nichts zu sehen bekommen.
Und wenn wir von diesem Zepter, welches hier bloß das väterliche,
unvergängliche Zepter heißt, sowie ein ähnliches ihm an einem andern
Orte bloß %0ovoeloıs HAotoL nERKOUEVOV, das mit goldenen Stiften be-
schlagene Zepter ist, wenn wir, sage ich, von diesem wichtigen Zepter
ein vollständigeres, genaueres Bild haben sollen, was tut sodann Homer?
Malt er uns außer den goldenen Nägeln nun auch das Holz, den ge-
schnitzten Kopf? Ja, wenn die Beschreibung in eine Heraldik sollte,
damit einmal in den folgenden Zeiten ein anderes genau danach gemacht
werden könne. Und doch bin ich gewiß, daß mancher neuere Dichter
eine solche Wappenkönigsbeschreibung daraus würde gemacht haben, in
der treuherzigen Meinung, daß er wirklich selber gemalt habe, weil der
Maler ihm nachmalen kann. Was bekümmert sich aber Homer, wie weit
er den Maler hinter sich läßt? Statt einer Abbildung gibt er uns die
Geschichte des Zepters: erst ist es unter der Arbeit des Vulkan, nun
glänzt es in den Händen des Jupiter, nun bemerkt es die Würde Merkurs,
nun ist es der Kommandostab des kriegerischen Pelops, nun der Hirten-
stab des friedlichen Atreus usw.
So kenne ich endlich dieses Zepter besser, als mir es der Maler
vor Augen legen oder ein zweiter Vulkan in die Hände liefern könnte. —
Es würde mich nicht befremden, wenn ich fände, daß einer von den
alten Auslegern des Homer diese Stelle als die vollkommenste Allegorie
von dem Ursprunge, dem Fortgange, der Befestigung und endlichen Be-
erbfolgung der königlichen Gewalt unter den Menschen bewundert hätte.
Ich würde zwar lächeln, wenn ich läse, daß Vulkan, welcher das Zepter
gearbeitet, als das Feuer, als das, was dem Menschen zu seiner Erhaltung
das Unentbehrlichste ist, die Abstellung der Bedürfnisse überhaupt an-
zeige, welche die ersten Menschen, sich einem einzigen zu unterwerfen,
bewogen; daß der erste König ein Sohn der Zeit (Zebs Kooviwr), ein
ehrwürdiger Alter gewesen sei, welcher seine Macht mit einem beredten
klugen Manne, mit einem Merkur (Auxxtög@ Aoyeıpdvın) teilen oder
gänzlich auf ihn habe übertragen wollen; daß der kluge Redner zur
Zeit, als der junge Staat von auswärtigen Feinden bedroht worden, seine
oberste Gewalt dem tapfersten Krieger (IT&omı ninEinnaeo) überlassen habe;
daß der tapfere Krieger, nachdem er die Feinde bekämpft und das Reich
gesichert; es seinem Sohne in die Hände gespielt, welcher als ein fried-
liebender Regent, als ein wohltätiger Hirte seiner Völker (xoL.unr Aa.Ö0v),
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