244 Über das Epigramm.
reichsten Kleinigkeit anheimgefallen? Oder lohnt es sich nicht der Mühe,
sich um diese Ursache zu bekümmern? Es ist gewiß, daß der Sprach-
gebrauch nur selten ganz ohne Grund ist. Das Ding, dem er einen
gewissen Namen zu geben fortfährt, fährt unstreitig auch fort, mit dem-
jenigen Dinge etwas gemein zu haben, für welches dieser Name eigent-
lich erfunden war. Und was ist. dieses hier? Was hat das witzigste
Sinngedicht eines Martial mit der trockensten Aufschrift eines alten Denk-
mals gemein, so daß beide bei einem Volke, dessen Sprache wohl am
wenigsten unter allen Sprachen dem Zufall überlassen war, einerlei Namen
führen konnten? Diese Frage ist nicht die nämliche, welche Scaliger
zu Anfang seines Hauptstücks über das Epigramm aufwirft. Scaliger
fragt: „Warum werden nur die kleinen Gedichte Epigramme genannt?“
Das heißt annehmen, daß alle kleinen Gedichte ohne Unterschied diesen
Namen führen können, und daß er nicht bloß einer besonderen Gattung
kleiner Gedichte zukommt. Daher können mich auch nicht die Antworten
befriedigen, die Scaliger, aber auch nur fragweise, darauf erteilt. „Etwa“,
sagt er, „eben darum, weil sie klein, weil sie kaum mehr als die bloße
Aufschrift sind? Oder etwa darum, weil wirklich die ersten kleinen Ge-
dichte auf Denkmäler gesetzt wurden und also im eigentlichen Verstande
Aufschriften waren?‘ Jenes, wie gesagt, setzt etwas Falsches voraus
und macht allen Unterricht über das Epigramm überflüssig. Denn wenn
es wahr ist, daß bloß die Kürze das Epigramm macht, daß jedes Paar
einzelne Verse ein Epigramm ist, so gilt der kaustische Einfall jenes
Spaniers: „Wer ist so dumm, daß er nicht ein Epigramm machen könnte;
aber wer ist solch ein Narr, daß er sich die Mühe nehmen sollte, deren
zwei zu machen?‘ Dieses aber sagt im Grunde gar nichts mehr, als
was ich bei meiner Frage als bekannt annehme. Ich nehme an, daß
die ersten kleinen Gedichte, welche auf Denkmäler gesetzt wurden, Ep}
gramme hießen. Aber darin liegt noch kein Grund, warum jetzt auch
solche kleine Gedichte Epigramme heißen, die auf Denkmäler gesetzt zu
werden weder bestimmt noch geschickt sind. Oder höchstens würde
wiederum aller Grund auf die beiden gemeinschaftliche Kürze hinauslaufen.
Ich finde nicht, daß die neueren Lehrer der Dichtkunst bei ihren
Erklärungen des Epigramms auf meine Frage mehr Rücksicht genommen
hätten. Wenigstens nicht Boileau, von dem freilich ohnedem keine schul-
gerechte Definition an dem Orte zu verlangen war, wo er sagt, daß das
Epigramm oft weiter nichts sei, als ein guter Einfall, mit ein paar Reimen
verziert. Aber auch Batteux nicht, der das Epigramm als einen inter-
essanten Gedanken beschreibt, der glücklich und in wenig Worten vor-
getragen wird. Denn weder hier noch dort sehe ich die geringste Ur-
sache, warum denn nun aber ein guter gereimter Einfall, ein kurz und
glücklich vorgetragener interessanter Gedanke eben eine Aufschrift, ein
Epigramm heißt. Oder ich werde mich auch bei ihnen beiden damit
begnügen müssen, daß wenige Reime, ein kurzer Gedanke wenig und
kurz genug sind, um auf einem Denkmale Platz zu finden, wenn sie sonst
anders Platz darauf finden können.
Gewiß ist es, daß es nicht die Materie sein kann, welche das Sinn-
gedicht hoch jetzt berechtigt, den Namen Epigramm zu führen. Es hat