56 II. Goethes und Schillers Gedankenlyrik.
Frei empfängt mich die Wiese mit weithin verbreitetem Teppich-
Durch ihr freundliches Grün schlingt sich der ländliche Pfad.
Um mich summt die geschäftige Bien', mit zweifelndem Flügel
Wiegt der Schmetterling sich über dem rbtlichten Klee.
5 Glühend trifft mich der Sonne Pfeil, still liegen die Weste,
Nur der Lerche Gesang wirbelt in heiterer Luft.
Doch jetzt braust's aus dem nahen Gebüsch- tief neigen der Erlen
Kronen sich, und im Wind wogt das versilberte Gras-
Mich umfängt ambrosische Nacht- in duftende Kühlung
io Nimmt ein prächtiges Dach schattender Buchen mich ein.
In des Waldes Geheimnis entflieht mir auf einmal die Landschaft,
Und ein schlängelnder Pfad leitet mich steigend empor.
Nur verstohlen durchdringt der Zweige laubichtes Gitter
Sparsames Licht, und es blickt lachend das Blaue herein.
i5 Aber plötzlich zerreißt der Flor. Der geöffnete Wald gibt
Überraschend des Tags blendendem Glanz mich zurück.
Unabsehbar ergießt sich vor meinen Blicken die Ferne,
Und ein blaues Gebirg' endigt im Dufte die Welt.
Tief an des Berges Fuß, der jählings unter mir abstürzt,
20 Wallet des grünlichten Stroms fließender Spiegel vorbei.
Endlos unter mir seh' ich den Äther, über mir endlos,
j h ^Blicke mit Schwindeln hinauf, blicke mit Schaudern hinab.
. Aber zwischen der ewigen Höh' und der ewigen Tiefe
Trägt ein geländerter Steig sicher den Wandrer dahin.
25 Lachend fliehen an mir die reichen Ufer vorüber,
Und den fröhlichen Fleiß rühmet das prangende Tal.
Jene Linien, sieh! die des Landmanns Eigentum scheiden,
In den Teppich der Flur hat sie Demeter gewirkt.
Freundliche Schrift des Gesetzes, des menschenerhaltenden Gottes,
30 Seit aus der ehernen Zeit fliehend die Liebe verschwand!
Aber in freieren Schlangen durchkreuzt die geregelten Felder,
Jetzt verschlungen vom Wald, jetzt an den Bergen hinaus
Klimmend, ein schimmernder Streif, die Länder verknüpfende Straße-
Auf dem ebenen Strom gleiten die Flöße dahin.
35 Vielfach ertönt der Herden Geläut' im belebter« Gefilde,
Und den Widerhall rveckt einsam des Hirten Gesang.
Muntre Dörfer bekränzen den Strom, in Gebüschen verschwinden
Andre, von« Rücken des Bergs stürzen sie jäh dort herab.
Nachbarlich wohnet der Mensch noch mit dem Acker zusammen,
40 Seine Felder umruhn friedlich sein ländliches Dach-
Traulich rankt sich die Reb' empor an dem niedrigen Fenster,
Einen umarmenden Zweig schlingt um die Hütte der Baum.
Glückliches Volk, der Gefilde! noch nicht zur Freiheit erwachet,
Teilst du mit deiner Flur fröhlich das enge Gesetz.
45 Deine Wünsche beschränkt der Ernten ruhiger Kreislauf,
Wie dein Tagewerk gleich rvindet dein Leben sich ab!
Aber wer raubt mir aus einmal den lieblichen Anblick? Ein fremder
Geist verbreitet sich schnell über die fremdere Flur.
Spröde sondert sich ab, «vas kaum noch liebend sich mischte,
Und das Gleiche nur ist's, was an das Gleiche sich reiht-
50