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Nun möchte es scheinen, als ob wir in den besseren unserer 
Lesebücher, Avelclie ja nur sorgfältig ausgewählte Stoffe bieten, 
ein geeignetes Mittel besässen, den Übelständen der Litteraturge- 
schichten sowohl als der Kommentare zu entgehen. Hier ist ja 
dem Lehrer Gelegenheit geboten, aus dem reichen Material beliebig 
auszuwählen, was er für das den Bedürfnissen seiner Schüler Ange¬ 
messenste hält. Es soll auch nicht geleugnet werden, dass unsere 
jetzigen Lesebücher gegen die noch vor zwanzig Jahren gebräuch¬ 
lichen einen grossen Fortschritt fast in jeder Beziehung bekunden. 
Nichtsdestoweniger schiessen sie nicht selten über das Ziel der 
Schule hinaus, indem ihre Verfasser, in der Meinung, es komme 
darauf an, möglichst viel zur Auswahl zu bieten, ein solches Kon¬ 
glomerat der verschiedenartigsten Proben aus den verschiedensten 
Schriftstellern bringen, dass der Gesichtspunkt der Konzentration, 
eines Hauptangelpunktes für das Interesse, ganz in den Hintergrund 
gedrängt wird. Ich will zwar nicht in Abrede stellen, dass ein ver¬ 
ständiger Lehrer aus dem reichhaltigen Lesebuche eine solche Aus¬ 
wahl für seine Schüler zu treffen vermag, dass denselben in den 
meisten Fällen das Bewusstsein von der Zweckmässigkeit der ge¬ 
troffenen Wahl gewahrt bleibt, und dass sie erkennen, nicht das 
blosse Belieben des Lehrers habe den Ausschlag gegeben. Die 
Auswahl jedoch, wie sie der Verfasser eines Lesebuchs oder der 
Lehrer vornimmt, erfolgt gewöhnlich entweder nach einem formalen 
oder nach einem historischen Gesichtspunkte. Der formale fragt 
bald nach der rhetorischen oder poetischen Gattung eines Stückes, 
bald nach der Schwierigkeit, bald nach dem Strophenbau u. s. w. 
und kann nicht anders als die inhaltlich verschiedenartigsten Stücke 
neben- und nacheinander zu betreiben. Der historische Gesichts¬ 
punkt kommt, indem er schriftstellerische Proben aus den ver¬ 
schiedenen Litteraturepochen in geschichtlicher Aufeinanderfolge 
bringt, wesentlich auf die Tendenz der Literaturgeschichten zurück, 
nämlich den ganzen Entwickelungsgang der Literatur vorzuführen. 
Das Schiller-Lesebuch vertritt nun weder einen formalen 
noch einen historischen Gesichtspunkt, sondern hat es sich zur Auf¬ 
gabe gemacht, inhaltlich Verwandtes nebeneinander zu stellen. 
Wohl bin ich mir bewusst, dass hiergegen nicht unerhebliche Be¬ 
denken vorliegen; und dieselben sind mir denn auch bei der mühe¬ 
vollen Zusammenstellung des Buches mehr als einmal in so dringender 
wenn er auch nur die Hälfte des hier Gebotenen und Verlangten sein eigen 
nennen könnte. Die in beiden Werken vertretenen Standpunkte können als 
Extreme bezeichnet werden, und es ergiebt sich daher für die Fortbildung der 
Theorie des litteraturkundlichen Unterrichts die Aufgabe, eine richtige Mitte 
zwis chen ihnen herauszufinden.
	        
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