Full text: Deutsche Dichtung in der Neuzeit (Abt. 2)

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welche an dem (von Bote und Götter 1770 gegründeten) „Göttinger Musen¬ 
almanach" arbeiteten, zu einem Freundschaftsbunde, dem sogenannten Göt¬ 
tinger Dichterbund oder Hainbund. Zu den Gründern dieses Bundes 
gehörten: Joh. Heinr. Voß, Ludwig Hölty und Martin Miller (gest. 1814, 
durch seinen Roman: „Siegwart, eine Klostergeschichte" einer der Haupt¬ 
vertreter sentimentaler Schwärmerei). Später traten dem Bunde bei oder 
standen ihm doch sehr nahe: Gottfried August Bürger, die beiden 
Brüder Christian und Friedrich Leopold von Stolberg, Johann Anton 
Leisewitz (f 1806; von ihm das Trauerspiel: „Julius von Tarent") und 
Matthias Claudius. 
Anmerkung. Mit Höltys schwermütig elegischer Richtung zeigen Verwandtschaft: 
Christ. August Tiedge, Friedrich Matth iss ou uud Joh. Gaudeuz von Salis. 
5. Wie Klopstock und Wieland einander ausschließen, so ergänzen sich 
Lessing (1729—1781) und Herder (1744—1803). Lessing ist der Be¬ 
gründer einer neuen dramatischen Gattung in Deutschland, des bürgerlichen 
Trauerspiels, er ist der Schöpfer des bis auf diesen Tag einzig gebliebenen 
deutschen Lustspiels; aber seine höchste und eigentümlichste Bedeutung muß auf 
einem anderen Gebiete als dem der Dichtkunst gesucht werden. Er hat im 
„Laokoon" (1766) das Wesen aller Kunst und die Grenzen der Dichtkunst 
theoretisch begründet; er hat in der „Hamburgischen Dramaturgie" (1767— 
1769) die Herrschaft des Französischen für immer vernichtet, in Shakespeare 
das höchste Muster, in Aristoteles den ewig gültigen Gesetzgeber dramatischer 
Poetik aufgestellt. Während Lessing so mit der Schärfe des Verstandes die 
poetischen Formen feststellte, hat Herder mit Scharfsinn die Natur der Dicht¬ 
kunst zu erklären gesucht und ihr Stoff und Gestalt und Ton und Farbe ge¬ 
geben. Er übte einen unberechenbaren Einfluß auf die deutsche Dichtung durch 
die ihm im höchsten Grade verliehene Gabe in den Geist der Poesie der ver¬ 
schiedensten Völker einzudringen und ihn getreu in Übertragungen nachzubilden 
(„Stimmen der Völker in Liedern" 1778; „Cid" 1803); von ihm ging der 
Hinweis aus aus die Urkraft und Bedeutung der eigentlichen Volksdichtung 
(„Fragmente zur deutschen Litteratur" 1767; „Blätter von deutscher Art und 
Kunst" 17 73), von ihm die Auffassung des Altertums in human christlichem 
Sinne („Jdeeen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" 1784—91, 
„Briese zur Beförderung der Humanität" 1793—1797). Lessings Jdeeen 
gipfeln in dem Gedanken, daß die höchste Aufgabe der Poesie die Schönheit, 
die ideale Form sei, Herders Jdeeen in dem Gedanken, daß die Natur in ihrer 
Urgestalt selbst Poesie sei. 
6. Der Gegensatz dieser Jdeeen, die begrenzende Regel von der einen, 
die Freiheit der Natur von der anderen Seite brachte in den siebziger Jahren 
des 18. Jahrh. — ungefähr um dieselbe Zeit, wo der Göttinger Dichterbund 
sich bildete — eine gewaltige Gärung hervor. Es entstand ein seltsam stür¬ 
misches Verlangen nach der Rückkehr zu fessellosen Naturzuständen, nach geistiger 
Ungebundenheit und Regellosigkeit. Alle Regeln und Vorbilder wurden ver¬ 
worfen — nur Shakespeare nicht, weil er für regellos galt —; dagegen wurde 
das Genie, d. h. die höchste geistige Naturkraft zur rücksichtslosen Äußerung 
jedes poetischen Ausdruckes für berechtigt gehalten. Genialität und Originalität 
wurden die Losungsworte dieser Zeit, der sogenannten Sturm- und Drang¬ 
periode. Die bedeutendsten der dieser Zeit angehörenden „Krastgenies" waren:
	        
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