162 IV. Neuhochdeutsche Zeit. C. Zweite Blütezeit der deutschen Dichtung.
Faust.
Welch tiefes Summen, welch ein Heller Ton,
80 Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde?
Verkündiget ihr dumpfen Glocken schon
Des Osterfestes erste Feierstunde?
Ihr Chöre, singt ihr schon den tröstlichen Gesang,
Der einst um Grabesnacht von Engelslippen klang,
85 Gewißheit einem neuen Bunde?
Chor der Weiber.
Mit Spezereien
Hatten wir ihn gepflegt,
Wir, seine Treuen,
Hatten ihn hingelegt;
Tücher und Binden 90
Reinlich umwanden wir.
Ach, und wir finden
Christ nicht mehr hier!
Chor der Engel.
Christ ist erstanden! I Heilsam und übende
95 Selig der Liebende, Prüfung bestanden!
Der die betrübende,
Faust.
Was sucht ihr, mächtig und gelind,
100 Ihr Himmelstöne, mich am Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind!
Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.
Zu jenen Sphären wag' ich nicht zu streben,
105 Woher die holde Nachricht tönt;
Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
Sonst stürzte sich der Himmelsliebe Kuß
Auf mich herab in ernster Sabbathstille;
110 Da klang so ahnungsvoll des Glockentones Fülle,
Und ein Gebet war brünstiger Genuß.
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich, durch Wald und Wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Thränen
115 Fühlt' ich mir eine Welt entstehn.
Dies Lied verkündete der Jugend muntre Spiele,
Der Frühlingsfeier freies Glück;
Erinnrnng hält mich nun mit kindlichem Gefühle
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.
120 O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder!