12. Aus: „Ideen zur Geschichte der Menschheit". 445
reichen jetzt nicht bloß durch dieses eine Werkzeug die Hände der Euro¬
päer! wohin werden sie künftig nicht reichen!
Und wie diese Kunst, so hat das Menschengeschlecht in wenigen
Jahren ungeheuer viel Künste erfunden, die über Lust, Wasser, Himmel
und Erde seine Macht ausbreiten. Ja, wenn wir bedenken, daß nur
wenige Nationen in diesem Konflikte der Geistesthätigkeit waren, indes
der größte Teil der anderen über alten Gewohnheiten schlummerte; wenn
wir erwägen, daß fast alle Erfindungen unseres Geschlechtes in sehr junge
Zeiten fallen und beinahe keine Spur eines alten Gebäudes oder einer-
alten Einrichtung vorhanden ist, die nicht an unsere junge Geschichte ge¬
knüpft sei: welche Aussicht giebt uns diese historisch erwiesene Regsamkeit
des menschlichen Geistes in das Unendliche künftiger Zeiten! In den
wenigen Jahrhunderten, in welchen Griechenland blühte, in den wenigen
Jahrhunderten unserer neuen Kultur, wie vieles ist in dem kleinsten Teile
der Welt, in Europa, und auch beinahe in dessen kleinstem Teile aus¬
gedacht, erfunden, gethan, geordnet und für künftige Zeiten aufbewahrt
worden! Wie eine fruchtbare Saat sproßten die Wissenschaften und Künste
haufenweise hervor, und eine nährte, eine begeisterte und erweckte die
andere. Wie, wenn eine Saite berührt wird, nicht nur alles, was Ton
hat, ihr zutönt, sondern auch bis ins Uuvernehmbare hin alle ihre har¬
monischen Töne dem angeklungenen Laute nachtönen, so erfand, so schuf
der menschliche Geist, wenn eine harmonische Stelle seines Innern be¬
rührt ward. Sobald er auf eine neue Zusammenstimmung traf, konnten
in einer Schöpfung, wo alles zusammenhängt, nicht anders, als zahlreiche
neue Verbindungen ihr folgen.
Aber, wird man sagen, wie sind alle diese Künste und Erfindungen
angewandt worden? Hat sich dadurch die praktische Vernunft und Billig¬
keit, mithin die wahre Kultur und Glückseligkeit des Menschengeschlechtes
erhöht? Das scharfe Messer in der Hand des Kindes verletzt dasselbe;
deshalb ist aber doch die Kunst, die dieses Messer erfand und schärfte, eine
der unentbehrlichsten Künste. Nicht alle, die ein solches Werkzeug brauchen,
sind Kinder, und auch das Kind wird durch seinen Schmerz den bessern
Gebrauch lernen. Künstliche Übermacht in der Hand des Despoten, fremder
Luxus unter einem Volke ohne ordnende Gesetze sind dergleichen tötende
Werkzeuge; der Schade selbst aber macht die Menschen klüger, und früh
oder spät muß die Kunst, die sowohl den Luxus als den Despotismus
schuf, beide selbst zuerst in ihre Schranken zwingen und sodann in ein
wirkliches Gute verwandeln. Jede ungeschickte Pflugschar reibt sich durch
den langen Gebrauch selbst ab; uubehilfliche, neue Räder und Triebwerke
gewinnen bloß durch den Umlauf die bequemere, künstliche Epicykloide.
So arbeitet sich auch in den Kräften des Menschen der übertreibende