Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

164 
herrscht! Ohne es deutlich sehen zu können, glaubte er das stechende Auge 
des rothen Mannes zu suhlen; er wandte sich ängstlich nach Ludwig um. 
Aber dieser war nicht allein schon erwacht, Ws schien sogar, er war früher 
aufgefordert worden, als er selbst; denn er stand bereits ebenso willfährig, 
als Reginald. 
„Gesellschaft sollt Ihr finden," fuhr der rothe Mann fort — „und für 
zwei Grafen von Crecy, an deren Leben die Erhaltung des Hauses Crecy- 
Chabanne hängt, soll es passende, unterhaltende Gesellschaft sein! Ihr fürchtet 
Euch doch nicht?" setzte er höhnisch hinzu. 
Dies schreckte Reginald empor. Jetzt erst fühlte er den erstarrten Zorn 
sich in seiner Brust beleben. „Wer seid Ihr?" rief er. „Welch ein Recht 
habt Ihr, in unserm Schlosse eine Einladung an uns zu richten, als wäret 
Ihr der Herr desselben?" 
Eine Art Schnauben, wie es der Zorn zuweilen bei sehr wilden Men¬ 
schen hören läßt, ging voran, dann folgte ein höhnendes Lachen. „Kind, 
halte ein mit deiner Wichtigkeit," rief dann der rothe Mann — „und hüte 
dich, mich zu reizen, daß du nicht gleich erfährst, welche Macht ich hier habe 
— eine solche, die in ihrem Alter und in ihrer Rechtmäßigkeit die deinige 
überbieten könnte!" 
Und Reginald — der kühne, hochherzige Jüngling — schwieg. Ihm 
war so fremd und erdrückt zu Muth; als er sprach, fühlte er keine Kraft, 
seinen Worten Ton und Stärke zu geben; sein Athem war so kurz, sein Kops 
schien ihm nicht frei — nur die Nähe Ludwig's beruhigte ihn. An seiner 
Seite folgte er dem voranschreitenden rothen Manne, willenlos — wie durch 
Zauber ihm nachgezogen, und an Ludwig dieselbe Gewalt wahrnehmend. 
Als sie die Schwelle der jetzt geöffneten, früher so fest verschlossenen 
Thüre überschritten, blieb der rothe Mann stehen, und indem er zurückschaute, 
sagte er: „Ihr hattet, denke ich, große Lust, diese Räume zu betreten! Als 
ich Euch an den Schlössern hämmern hörte, konnte ich denken, wer es war. 
Ihr hattet Recht, hier Einlaß zu wünschen — nur kam es mir zu. Euch 
hier willkommen zu heißen; denn es ist so recht eigentlich mein Bezirk — 
auch wartete ich schon längst auf Euch, Ihr Grafen von Crecy-Chabanne!" 
Ein kurzes feindliches Lachen folgte, und die erschütterten Jünglinge eilten 
ihm nach, der mit geräuschlosen Schritten über das dunkle Getäfel vor¬ 
anglitt. 
Sie fanden erleuchtete Räume, ohne den Moder der Zerstörung, doch in 
dem Geschmack des Jahrhunderts eingerichtet, dem der Mann im rothen 
Mantel anzugehören schien. Sie kamen erst durch einige kleine Wohnzimmer, 
durch ein Schlafzimmer mit einem großen Bette, gegen dessen verschlossene, 
schwersammetne Vorhänge ihr Führer wild drohend die Hand erhob — und 
wie glich er jetzt Souvrö!*) dann öffneten sich weite Säle, und die Jüng- 
*) Marquis v. Souvrs, ein alter Böscwicht und Höfling, war von der alten 
Marschallin v. Crecy gebraucht worden, die Ehre ihres Sohnes mit Fcnnimor zu 
stören, und hatte durch die Kränkungen, welche er dieser zugefügt, besonders ihren 
frühen Tod beschleunigt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.