Full text: Auswahl deutscher Gedichte nach den nationalen metrischen Formen derselben

IX. Die Nibelungenstrophe. 369. 
Wann Sonnenlicht erlosch, tritt Sternenglanz hervor: 
auf Erden lebt der Tag, die Nacht im Hähern Chor. 
Die Macht der Sonne drückt den Geist zur Erde nieder, 
in Nachtviolendnst steigt er zuni Himmel wieder. 
Wach auf! die Sonne sucht ein Bild dir vorzumalen, 
wie man zu Gottes Ruhm am Morgen könne stralen. 
In bunten Schalen steht der Frühwein eingeschenkt, 
womit der König Lenz sein Hofgesinde tränkt. 
Mit sieben Zungen thut die Lilie sich kund, 
und halbgeöffnet spricht der Rose Knospenmund. 
Die Blumen wollen dir ein Gottgeheimnis sagen, 
wie feuchter Erdenstaub kann Himmelsklarheit tragen. 
Es wankt das Tulpcnbeet, vom eignen Glanze trunken; 
das Liebesfeuer brennt, wer zählet seine Funken? 
Narzisse schaut dich au mit goldnem Augenstern: 
,Jch blicke nach dem Licht, du blicke nach dem Herrn!' 
In tausend Blumen steht die Liebesschrift geprägt! 
wie ist die Erde schön, wenn sie den Himmel trägt. 
Wenn du Gott wolltest Dank für jede Lust erst sagen, 
du fändest gar nicht Zeit noch über Weh zu klagen. 
O Herz, versuch es nur: so leicht ist, gut zu sein, 
und es zu scheinen, ist so eine schwere Pein. 
Vor Jedem steht ein Bild des was er werden soll: 
so lang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll. 
O bitt um Leben noch: du fühlst mit deinen Mängeln, 
daß du noch wandeln kannst nicht unter Gottes Engeln. 
Welch Herz noch etwas liebt, das ist noch nicht verlaßen: 
ein Fäserchen genügt, Wurzel in Gott zu faßen. 
Im selben Maß du willst empfangen, mußt du geben; 
willst du ein ganzes Herz, so gib ein ganzes Leben. 
Der Prüfstein trügt dich nie: gut ist, was wol dir tut, 
und das ist schlimm, o Herz, wobei dir schlimm zu Mut. 
Zwiespältig ist Verstand, und kann oft misverltehn: 
Gefühl, das mit sich eins, kann niemals irre gehn. 
Die Strafe macht dich frei von dem Gefühl der Schuld; 
drum straft dich, Kind, nicht Zorn des Vaters, sondern Huld. 
Der Frühling strickt ein Netz aus Farben, Tönen , Düften: 
komm, Herbstwind, und befrei den Geist aus Zaubergrüften! 
Mein Baum war schattendicht: o Herbstwind, komm und zeige, 
indem du ihn entlaubst, den Himmel durch die Zweige! 
Verweht sind ohn Ertrag der Blumen bunte Farben, 
in Scheuren eingeheimst die farbenlosen Garben. 
O Baum des Lebens! sieh, der Herbstwind wühlt, er sucht, 
ob unterm Blätterschmuck du bergest eine Frucht.
	        
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