Full text: Musterstücke deutscher Prosa

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fähigkeit und Gestalt, ohne Sprache und Ehe, ohne einige menschliche 
Sitten und Gebräuche gefunden worden. Sie glaubten, wo sie keinen 
sichtbaren Urheber sahen, an unsichtbare Urheber, und forschten also 
immer doch, so dunkel es war, den Ursachen der Dinge nach. Freilich 
hielten sie sich mehr an die Begebenheiten, als an die Wesen der Natur; 
mehr an ihre fürchterliche und vorübergehende als an die erfreuende 
und dauernde Seite; auch kamen sie selten so weit, alle Ursachen unter 
eine einzige zu ordnen. Indessen war auch dieser erste Versuch Reli¬ 
gion; und es ist nichts damit gesagt, daß Furcht bei den meisten ihre 
Götter erfunden habe. Die Furcht als solche erfindet nichts: sie weckt 
bloß den Verstand, zu mutmaßen und wahr oder falsch zu ahnen. 
Sobald der Mensch also seinen Verstand in der leichtesten Anregung 
brauchen lernte, d. h. sobald er die Welt anders als ein Tier ansah, 
mußte er unsichtbare mächtigere Wesen vermuten, die ihm Helsen oder 
ihm schaden. Diese suchte er sich zu Freunden zu machen oder zu er¬ 
halten, und so ward die Religion, wahr oder falsch, recht und irre 
geführt, die Belehrerin der Menschen, die ratgebende Trösterin ihres so 
dunkeln, so gefahr- und labyrinthvollen Lebens. 
Du hast dich deinen Geschöpfen nicht unbezeugt gelassen, du ewige 
Quelle alles Lebens, aller Wesen und Formen! Das gebückte Tier 
empfindet dunkel deine Macht und Güte, indem es seiner Organisation 
nach seine Kräfte und Neigungen übt; ihm ist der Mensch die sichtbare 
Gottheit der Erde. Aber den Menschen erhebst du, daß er selbst, ohne 
daß er es weiß und will, den Ursachen der Dinge nachspähe, ihren 
Zusammenhang errate, und dich also finde, du großer Zusammenhang 
aller Dinge, Wesen der Wesen! Das Innere deiner Natur erkennt 
er nicht, da er keine Kraft eines Dinges von innen einsieht; ja, 
wenn er dich gestalten wollte, hat er geirrt und muß irren; denn 
du bist gestaltlos, obwohl die erste einzige Ursache aller Gestalten. 
Indessen ist auch jeder falsche Schimmer von dir dennoch Licht, und 
jeder trügliche Altar, den er dir baute, ein untrügliches Denkmal 
nicht nur deines Daseins, sondern auch der Macht des Menschen, dich 
zu erkennen und anzubeten. Religion ist also, auch schon als Ver¬ 
standesübung betrachtet, die höchste Humanität, die erhabenste Blüte 
der menschlichen Seele. 
Aber sie ist mehr als dies: eine Übung des menschlichen Herzens 
und die reinste Richtung seiner Fähigkeiten und Kräfte. Wenn der 
Mensch zur Freiheit erschaffen ist und auf der Erde kein Gesetz hat, 
als das, welches er sich selbst auflegt, so muß er das verwildertste 
Geschöpf werden, wenn er nicht bald das Gesetz Gottes in der Natur 
erkennt und der Vollkommenheit des Vaters als Kind nachstrebt. Tiere 
sind geborne Knechte im großen Hause der irdischen Haushaltung; 
sklavische Furcht vor Gesetzen und Strafen ist auch das gewisseste 
Merkmal tierischer Menschen. Der wahre Mensch ist frei und gehorcht 
aus Güte und Liebe; denn alle Gesetze der Natur, wo er sie einsieht.
	        
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