Full text: Deutsches Lesebuch für die Obersekunda der höheren Lehranstalten

3. Gudrun. 
141 
schleudert, die Leinwand wäscht. Die beiden Kriegsmänner nahen sich den 
Jungfrauen, die sich schon auf die Flucht begeben wollen, und bieten ihnen 
beit Morgengruß, den sie lange nicht gehört haben, denn bei Frau Gerlind 
ist „guten Morgen", „guten Abend" teuer. Sie erkennen Gudrun in der 
schmachvollen Niedrigkeit ihrer Kleidung und ihrer Magdarbeit nicht, fragen 
sie aus um Land und Leute, vernehmen, daß das Land wohl gerüstet und 
stark bewehrt sei, und man hier nur vor einem Feinde, den Friesen (Hege¬ 
lingen), Besorgnis hege. Während der langen Unterredung stehen die Jung¬ 
frauen in der herben Kälte zitternd vor den fragenden Helden; diese bieten 
mitleidig ihnen ihre Mäntel, sich darin zu hüllen, aber Gudrun entgegnet: 
„Da soll mich Gott bewahren, daß an meinem Leibe jemals einer Mannes¬ 
kleider sähe!" Da fragt auch ihr Bruder Ortwin, ob nicht eine Jungfrau 
Gudrun einst als Geraubte hierher gebracht worden sei, und Herwig ver¬ 
gleicht wiederholt die Zuge der armen Dienstmagd mit den Zügen der edlen 
Königstochter, die einst seine Braut war; auch nennt er Ortwin bei Namen. 
„Ach, sagt Gudrun, wenn Ortwin und Herwig noch lebten, sie wären längst 
gekommen, uns zu retten; ich bin auch eine von den damals Geraubten, die 
arme Gudrun aber ist schon lange tot." Da streckt der Seelandskönig seine 
Hand aus: „Seid Ihr von den Geraubten, so müßt Ihr das Gold kennen, 
das ich an meinem Finger trage, ich bin Herwig genannt, und mit diesein 
Ringe ist Gudrun mir zu minnen verlobt worden". Da leuchten die Augen 
der Jungfrau in heller Freude auf, und wie gern sie auch die Schmach der 
Dienstbarkeit verborgen hätte, sie ist überwältigt: „Das Gold ich wohl er¬ 
kenne, denn ehedem war es mein; so trage auch ich noch dieses Gold, das 
einst mir Herwig sandte." Allein Bruder und Verlobter können nicht anders 
glauben, als daß sie, wie das damals sich von selbst verstand, Hartmuts 
Gemahlin geworden sei und sprechen ihr Erschrecken darüber aus, daß sie 
trotzdem so niedrige Dienste leisten müsse. Als sie jedoch erfahren, warum 
sie diese Demütigung, und so lange Jahre hindurch, erdulde, will Herwig 
sie auf der Stelle mitnehmen — und es geschieht doch? werden wir fragen. 
Nein, es geschieht nicht; dazu waren die alten Sitten zu fest, zu streng und 
edel — die Sitten einer alten Zeit, die wir uns zu gern als eine Barbaren¬ 
zeit denken. „Was mir im Sturm des Krieges ist abgenommen worden", 
entgegnet Ortwin, „das will ich heimlich nicht entwenden, und eh' ich heimlich 
stehle, was ich mit Waffenkampf erringen muß, eher mögen, hätte ich hundert 
Schwestern, sie hier alle sterben." Die beiden Fürsten fahren zuriick nach 
ihrer Kriegsflotte, und der Sturm auf die Normannenburg wird vorbereitet; 
Gudrun aber, im erwachten stolzen Selbstgefühl und in der freudigen Er¬ 
wartung einer ehrenvollen Errettung durch Heldenhand, wirft nun die Lein¬ 
wand, statt sie zu waschen, in die See. Grimmiger Empfang mit schimpf¬ 
lichen Schlägen erwartet sie von seiten der erbosten Gerlind; um der Mi߬ 
handlung zu entgehen, stellt Gudrun sich, als wolle sie nunmehr Hartntut
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.