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Hirten zu seiner Hilfe herbeigeeilt kamen, so war kein Wolf zu sehen;
der Hirt aber stand ganz ruhig da und lachte sie noch dazu aus.
Mehrmals war ihm dieser törichte Scherz gelungen. Endlich aber
sollte er ihn bitter bereuen. Der Wolf fiel nämlich eines Tages wirk¬
lich in seine Hürden ein. „Zu Hilfe, zu Hilfe, meine Brüder!" jam¬
merte er nun in höchster Verzweiflung. „Der Wolf ist da! Es ist
wirklich der Wolf!"
Seine Nachbarn hörten wohl seinen Notschrei, blieben aber ruhig
in ihren Hütten, weil ihm niemand mehr glaubte, und der Wolf er¬
würgte einen großen Teil seiner Herde.
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,
Und wenn er auch die Wahrheit spricht.
269. Ich mag nicht lügen.
I. F. Schlez.
Einem Knaben hatte jemand ein kleines Veil zum Spielen gegeben.
Daran hatte er seine große Freude und hieb damit, wie es eben traf,
und es traf manchmal hin, wo es nicht gut war. Als der Kleine mit
dem Veile auf der Schulter auch in den Garten kam, dachte er: „Nun
will ich ein tüchtiger Holzhauer sein," und fing an und hieb seines
Vaters schönstes Kirschbäumchen um.
Den andern Tag kam der Vater in den Garten, und als er das
schöne Bäumchen welk am Boden liegen sah, wurde er betrübt und
zornig. „Wer mir das getan hat," rief er, „der soll mir's schwer
büßen!" — Aber wer es getan hatte, das wußte kein Mensch — außer
einem, der stand gerade hinter der Hecke, hörte, wie der Vater so zürnte,
und wurde feuerrot. „Es ist schlimm!" dachte er, „aber wenn ich's
verschweige, so wär's eine Lüge, und lügen mag ich nicht." So trat er
denn schnell in den Garten zum Vater und sagte: „Vater, ich habe das
Bäumchen umgehauen! es war dumm von mir!" — Da sah der Vater
den Knaben an, und er machte wohl noch ein ernstes Gesicht, aber er
zürnte nicht mehr.
Der kleine Knabe lebte in Amerika und wurde nachher ein braver
Mann und dazu ein gewaltiger General, hat auch in seinem Leben nicht
gelogen. Er hieß George Washington.