65. Der Wolf und der Kranich.
August Gottlieb Meißner nach Äsop.
Dem Wolf war bei einem gierigen Fraß ein scharfer Knochen
im Schlunde steckengeblieben und machte ihm große Beschwerden.
Er versprach dem reichliche Belohnung, der ihn herausziehen
werde, und der Kranich leistete ihm diesen wichtigen Dienst.
Jetzt forderte der Wundarzt seine Belohnung; doch der Genesene
wies ihm die Tür und rief: „Unverschämter, du bringst deinen
Kopf unversehrt aus dem Rachen eines Wolfes und kannst noch
überdies von Belohnung sprechen? Geh und verdanke es dem
Übermaß meiner Milde, daß du noch lebst!"
66. Der Löwe und der Hase.
Eotthold Ephraim Lessing.
Ein Löwe würdigte einen drolligen Hasen seiner näheren Bekannt¬
schaft. „Aber ist es denn wahr," fragte ihn einst der Hase, „daß euch
Löwen ein elender, krähender Hahn so leicht verjagen kann?" „Aller¬
dings ist es wahr," antwortete der Löwe; „und es ist eine allgemeine
Erfahrung, daß wir großen Tiere durchgängig eine gewisse kleine
Schwachheit an uns haben. So wirst du, zum Exempel, von dem Ele¬
fanten gehört haben, daß ihm das Grunzen eines Schweines Schauder
und Entsetzen erwecket." — „Wahrhaftig?" unterbrach ihn der Hase.
„Ja, nun begreif' ich, warum wir Hasen uns so entsetzlich vor den
Hunden fürchten."
67. Der Rangstreit 6er Tiere.
Gotthold Ephraim Lessing.
1.
Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. Ihn zu
schlichten, sprach das Pferd: „Lasset uns den Menschen zu Rate
ziehen; er ist keiner von den streitenden Teilen und kann desto
unparteiischer sein." „Aber hat er auch den Verstand dazu?" ließ
sich ein Maulwurf hören. „Er braucht wirklich den allerfeinsten,
unsere oft tief versteckten Vollkommenheiten zu erkennen." „Das
war sehr weislich erinnert!" sprach der Hamster. „Jawohl!" rief
auch der Igel. „Ich glaube es nimmermehr daß der Mensch Scharf¬