2. Über Bergformen.
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2. Über Bergformen.
Von Prof. vr. Albrecht Penck. (Berlin 1895, Hermann Paetel.)
Unendliche Mannigfaltigkeit beherrscht die Gestaltung der Berge und Felsen.
Kaum je kehren genau dieselben Formen auf der Erdoberfläche zweimal wieder,
kein Berg gleicht genau seinem Nachbarn. Wohl gemahnt das Profil irgendeines
Gipfels gelegentlich an das eines anderen; aber gewöhnlich braucht man nur den
Standort zu wechseln, um ganz veränderte Umrisse gewahr zu werden. Die Sprache
vermag die Fülle einzelner Berggestalten nicht entsprechend wiederzugeben; bald
ist der Vorrat an Vergleichen mit geometrischen Körpern, wie mit Pyramiden und
Kegeln, oder mit Gebilden der Baukunst, mit Türmen, Wänden und Mauern er-
schöpft, und man muß sich dabei doch immer gesteheu, daß deu Bergen gerade das
fehlt, was geometrischen Körpern und Gebäuden eigen ist, nämlich die Regelmäßig-
feit der Anordnung und die Symmetrie des Aufbaues. Welch gewaltiger Unter-
schied in der Gestalt liegt doch zwischen der „kühnen Bergpyramide" eines Matter-
Horns und der eines Venedigers!
Wo die Sprache nicht ausreicht, tritt die Zeichnung in ihr Recht. Der jüngsten
Zeit sind mehrfache Versuche zu danken, durch bildliche Wiedergabe die Gestalten-
fülle eines einzigen Gebietes zu veranschaulichen. Aber in bloßen Bilderwerken
wird man schwer zur Auffindung von Gesichtspunkten gelangen, die zu einem tieferen
Verständnis der Bergformen führen. Hier muß die Beobachtung in der Natur ein-
setzen. Mau muß die Kräfte, welche die Erdoberfläche umgestalten, in ihrer Wirk-
samkeit verfolgen, man muß die Form des Berges mit seinen: Schichtbau vergleichen
— dann erst gewinnt man nicht bloß einen Einblick in die Entstehung der Erhebungen,
sondern erlangt auch zugleich eine Art natürlicher Klassifikation derselben. Dieser
naturgemäße Weg der Betrachtung ist verhältnismäßig spät betreten worden. Lange
Zeit hielt man die Berge gleich der gesamten Erdoberfläche ausschließlich für das
Werk gewaltiger Katastrophen, durch welche die Regelmäßigkeit des Aufbaus der
Erdkruste gestört und einzelne Schollen derselben wild durcheinander gewürfelt worden
seien. Durch solch eine allgemeine Erklärung war die Forschung um so mehr gehemmt,
als ihr eine Reihe der hervorragendsten Geologen beipflichtete. Erst vor wenigen
Jahrzehnten erschloß die genaue Untersuchung der Gebirge, daß sich die eiuzelnen
Berge nicht mit den Massen decken, welche durch die Bewegung der Erdkruste ver-
schoben wurden, sondern daß sie lediglich Teile von solchen sind. Bei weitem die
meisten Berge stellen Überreste früher zusammenhängender Erhebungen dar; sie
sind ans denselben herausgearbeitet.
Nicht bloß das Verhältnis zwischen Struktur und Oberfläche lehrt, daß die Berge
größtenteils ausgearbeitete oder Skulpturformen sind; auch der Verfolg der an der
Erdoberfläche wirkenden Kräfte vergewissert uns davon. In den letzten Jahren
hat man mehrfach Verschiebungen der Erdkruste durch Erdbeben wahrgenommen,
also Vorgänge, welche, entsprechend älteren Anschauungen, Berge oder Gebirge
bilden sollten. So wurde gelegentlich des Erdbebens vom 23. Januar 1855 ein 145 km
langer Streifen Landes auf der Nordinsel Neuseelands gehoben; es entstand ein ebenso
langer, höchstens 2,7 m hoher Abbruch, also kein ringsum abfallender Berg. Gleiches
geschah auf der Südinsel Neuseelands am 1. September 1888. Das große Erdbeben
von Japan am 22. Oktober 1891 war ebenfalls von der Erhebung eines Steilrandes,