Full text: (Achtes und neuntes Schuljahr) (Teil 4 für Kl. 2 u. 1)

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wo die Christenheit ein Ende hat, und niemand mehr das Vaterunser 
kennt, wenn's nicht einer, gleichsam als eine fremde Ware, aus 
Europa mitbringt. 
Also kamen eines Tages unter einer Schar Franzosen auch 
sechzehn badische Offiziere, die damals unter den Fahnen Napoleons 
gedient hatten, über die Schlachtfelder und Brandstätten von Europa 
ermattet, krank, mit erfrorenen Gliedmaßen und schlecht geheilten 
Wunden, ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Trost in Pensa an und 
fanden in diesem unheimlichen Lande kein Ohr mehr, das ihre 
Sprache verstand, kein Herz mehr, das sich ihrer Leiden erbarmte. 
Als aber einer den andern mit trostloser Miene anblickte: „Was 
wird aus uns werden?" oder: „Wann wird der Tod unserm Elend 
ein Ende machen, und wer wird den letzten begraben!" da vernahmen 
sie mitten durch das russische und kosakische Kauderwelsch, wie ein 
Evangelium vom Himmel, unvermutet eine Stimme: „Sind keine 
Deutsche da?" und es stand vor ihnen auf zwei nicht ganz gleichen 
Füßen eine liebe freundliche Gestalt. 
Das war der Schneider von Pensa, Franz Anton Egetmeier, 
gebürtig aus Breiten im Neckarkreis, Großherzogtum Baden. Hat 
er nicht im Jahre 1779 das Handwerk gelernt in Mannheim? Hernach 
ging er auf die Wanderschaft nach Nürnberg, hernach ein wenig 
nach Petersburg hinein. Ein Pfälzer Schneider schlägt sieben- bis 
achtmalhundert Stunden Weges nicht hoch an, wenn’s ihn inwendig 
treibt. In Petersburg aber ließ er sich in ein russisches Kavallerie¬ 
regiment als Regimentsschneider einstellen und ritt mit ihm in die 
fremde russische Welt hinein, wo alles anders ist, nach Pensa, bald 
mit der Nadel stechend, bald mit dem Schwert. 
ln Pensa aber, wo er sich nachher häuslich und bürgerlich 
niederließ, ist er jetzt ein angesehenes Männlein. Will jemand in 
ganz Asien ein sauberes Kleid nach der Mode haben, so schickt er 
zu dem deutschen Schneider in Pensa. Verlangt er etwas von dem 
Statthalter, der doch ein vornehmer Herr ist und mit dem Kaiser 
reden darf, so hat’s ein guter Freund vom andern verlangt, und 
hat auf dreißig Stunden Weges ein Mensch ein Unglück oder einen 
Schmerz, so vertraut er sich dem Schneider von Pensa an; er findet 
bei ihm, was ihm fehlt, Trost, Rat, Hilfe, ein Herz und ein Auge 
voll Liebe, Obdach, Tisch und Bett, nur kein Geld. 
Einem Gemüte, wie dieses war, das nur in Liebe und Wohltun
	        
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