§ 36. Goethes Leben.
177
dieselben zur Vollendung zu bringen. In dieser unbehaglichen Lage be¬
schloß er, Weimar auf einige Zeit zu verlassen und in Italien, dem Lande
seiner Sehnsucht, die Nutze seiner Seele wieder zu gewinnen.
b) Goethes Aufenthalt in Italien (1786—1788). Der
Dichter verweilte vom Oktober 1786 bis zum April 1788 in Italien,
und zwar zuerst in Nom, dann in Neapel und Sicilien und zuletzt noch¬
mals in Rom. Dieser anderthalbjährige Aufenthalt im herrlichen Italien,
das Studium der antiken Kunstwerke und der Verkehr mit großen Künstlern
wirkten auf seine poetische Stimmung und Thätigkeit so günstig ein, daß
man seine Romreise als einen Wendepunkt in seinem Leben bezeich¬
nen kann, als die Zeit seiner geistigen Wiedergeburt. Die Zeit
des Sturmes und Dranges war glücklich durchgekämpft, und klassische
Idealität ward das Streben seines Denkens und Dichtens. Es
kam zur Vollendung seine „pantheistische Auffassung der Religion im
Sinne des Altertums", und er gelangte „durch die Erkenntnis, in der
ganzen griechischen Kunst und Poesie walte das Streben nach dem Ideal
vor, zu der höchsten Vollendung der Form". So kamen „Iphigenie"
und „Eginont" in dieser Zeit ganz, „Tasso" zum größten Teil zum
Abschluß.
o) Goethe während der französischen Revolution und
im Verkehr mit Schiller (1788—1805). Nach Weimar zurück¬
gekehrt, wandte Goethe der bisherigen Beschäftigung mit praktischen Amts¬
geschäften den Rücken und führte nur noch die Aufsicht über „die Anstalten
für Wissenschaften und Künste". Die französische Revolution ließ in ihren
Folgen jedoch auch ihn nicht unbehelligt. So mußte er den Herzog 1792
im Gefolge des preußischen Heeres nach der Champagne begleiten (den
Feldzug hat er beschrieben unter dem Titel: „Campagne in Frankreich")
und wohnte 1793 der Belagerung von Mainz bei. Mit dem Jahre
1794 trat dann für ihn durch einen lebhaften brieflichen Verkehr mit
Schiller, der 1799 selbst nach Weimar übersiedelte und mit ihm den
innigsten freundschaftlichen Umgang pflog, eine neue Zeit dichterischer
Thätigkeit ein; denn durch Schillers Einfluß begann für ihn „eine zweite
Jugend", „ein neuer Frühling, in welchem alles froh neben einander
keimte". Die Verschiedenheit ihrer Naturen und ihrer Anlagen war ganz
danach angethan, sie gegenseitig anzuregen und zu ergänzen. Goethes
realistische Weise, in der er die Menschen und die Dinge nahm, wie
er sie fand, in der er nur die Wirklichkeit, wenn auch dichterisch
verklärt, wiedergab, und Schillers idealistische Weise, in der er die
Menschen und die Dinge nach seinem idealen Sinne gestaltete, wie sie sein
sollen, nicht, wie sie sind, standen in edlem Wettstreit, in welchem
beide, gegenseitig sich läuternd, bedeutend gewannen. Nachdem sie in Ge-
Hense, Lesebuch. II. 12