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127. Die Hosen.
Christoph von Schmid.
Gesammelte Schriften. XVI. Bändchen. 2. Auflage. Augsburg. 1861. 8. 8.
1. Ein Landmann, der auf einem abgelegenen Bauernhöfe
wohnte, brachte schon im Monat März einen Rosenstrauch aus der»
Stadt mit und pflanzte ihn in sein Gärtchen. Das kleine Gretchen
hatte noch nie einen Rosenstrauch gesehen und sagte: „Aber was
machst du doch da, lieber Vater?' Wie magst du doch diese dürren,
dornigen Stauden gerade in die Mitte unseres schönen Gartens >
setzen? Diese Dornen! sind eine schlechte Zierde; sie entstellen den
ganzen Garten." „Warte nur zu, / mein liebes Kind, und habe
Geduld!" sprach der Vater; „da wird dieser Dornstrauch so wunder--
schöne Blumen hervorbringen, dergleichen du in deinem Leben noch
keine erblickt hast!"' Gretchen wollte das nicht glauben und schüttelte
bedenklich das lockige Köpfchen.
2. Aber sieh da! Der dornige Strauch fing an auszuschlagen
und bekam schönes dunkelgrünes Laub; zarte Knöspchen erschienen,
die immer größer wurden, und nachdem alle Aurikeln, Tulpen und
Narzissen verblüht waren,/ öffneten sich endlich die Rosenknospen, und
der Strauch prangte mit einer Menge von Rosen, über deren herrliche
Purpurfarbe und lieblichen Wohlgeruch Gretchen erstaunte. „O wie
schön!" rief das Kind mehImal; „sie sind schöner als alle andern
Blumen. Der Rosenstrauch ist die schönste Zierde unsers Gartens."
3. „Siehst du nun, mein Kind," sprach der Vater, „wie aus
den Dornen Rosen aufblühen? Du mußtest zwar den ganzen Frühling
hindurch darauf warten und verlorst beinahe die Geduld. Aber nun
erkennst du, wie wahr das Sprichwort ist: Die Zeit bringt Rosen.
Wie mit diesem Dornenstrauch, der Rosen bringt, so ist es auch mit
den Widerwärtigkeiten des Lebens, die uns Freude bringen."
127a. Dax Pferd und der Wolf
Ein Pferd, das auf der Weide ging, sah einen Wolf aus dem
Walde heranschleichen. Da es sich nichts Gutes von ihm versah,
sann es auf eine List, wie es sich in Sicherheit bringen könnte. Es
stellte sich, als ob es krank wäre, und hinkte. „Was fehlt dir, guter
Freund?" fragte der Wolf, der sich schon seiner Beute sicher glaubte.
„Ach," antwortete das Pferd, „ich habe mir einen Dorn in meinen
linken Hinterfuß getreten und muß nun große Schmerzen leiden." —
„Dann kann dir bald geholfen werden," erwiderte der Wolf, „ich
bin ein Arzt und werde dir sogleich den Dorn ausziehen." Das
Pferd hob den Fuß auf und streckte ihn dem Wolfe zu. Als dieser
nun herantrat, gab es ihm mit seinem Huf einen solchen Schlag vor
den Kops, daß er betäubt zu Boden sank. Erst nach langer Zeit
kam er wieder zu sich. Aber da war das Pferd längst davon geeilt,
und der Wolf schlich unter großen Schmerzen in den Wald zurück.