146
VI. Griechische Sagen.
nehmen: Wenn mir Zeus den Sieg verleiht, werde ich dich nimmer¬
mehr mißhandeln, sondern dir nur die Rüstung abziehen und die Leiche
deinen Volksgenossen zurückgeben. Ein gleiches sollst du mir tun."
„Nicht von Verträgen geredet!" erwiderte finster Achilles. „So wenig
ein Bund zwischen Löwen und Menschen Freundschaft stiftet, so wenig
zwischen Wölfen und Lämmern Eintracht besteht, so wenig wirst du
mich mit dir befreunden. Einer von uns muß blutig zu Boden stürzen.
Nimm deine Kunst zusammen, du mußt Lanzenschwinger und Fechter
zugleich sein! Doch du wirst mir nicht entrinnen; all das Leid, das du
den Meinigen mit der Lanze angetan hast, das büßest du mir jetzt aus
einmal!" So schalt Achilles und schleuderte die Lanze; doch Lektor
sank ins Knie, und das Geschoß flog über ihn weg in die Erde; hier
faßte es Athene und gab es, unbemerkt von Lektor, dem Peliden so¬
gleich zurück. Mit zornigem Schwung entsandte nun Lektor auch seinen
Speer, und dieser fehlte nicht; er traf mitten auf den Schild des Achilles,
prallte aber davon ab. Bestürzt sah sich Lektor nach seinem Bruder
Deiphobus um, denn er hatte keine zweite Lanze zu versenden; doch
dieser war verschwunden. Da wurde Lektor inne, daß es Athene war,
die ihn getäuscht hatte. Wohl sah er ein, daß das Schicksal ihn jetzt
fassen würde; er dachte daher nur daraus, wie er nicht rühmlos in den
Staub sinken wollte, zog sein gewaltiges Schwert von der Lüfte und
stürmte damit einher, wie ein Adler aus einen geduckten Lasen oder ein
Lämmlein aus der Luft herabschießt. Der Pelide wartete den Streich
nicht ab; auch er drang unter dem Schilde vor; sein Lelm nickte, die
Mähne fiatterte, und sternhell strahlte der Speer, den er grimmig in
seiner Rechten schwenkte. Sein Auge durchspähte Lektors Leib, forschend,
wo etwa eine Waffe haften könnte. And er fand die Stelle und durch¬
bohrte ihm die Kehle. Lektor sank in den Staub und fiehte sterbend
den Sieger an, seinen Leichnam wenigstens zu ehren und zu schonen und
nicht den Vögeln und Tieren preiszugeben. Doch der grausame Pelide
frohlockte im Siegestaumel, nimmer werde er seiner schonen, noch für
Gold die Leiche den Trojanern zur Bestattung ausliefern. „Ich kenne
dich!" fiüsterte aufstöhnend Lektor; „dein Lerz ist eisern. Aber denk
an mich, wenn die Götter mich rächen und am hohen Skäischen Tore
dich das Geschoß des Phöbus Apollo trifft und du im Staube endest,
wie jetzt ich!" Mit dieser Weissagung verließ Lektors Seele den Leib
und fiog zum Lades hinunter. Achilles aber rief ihr nach: „Stirb du;
mein Los empfang' ich, wann Zeus und die Götter es wollen!" So
sprach er und zog die eigene blutige Rüstung von den Schultern des
Erschlagenen.