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Vs. Griechische Sagen.
3. Polyphem.
Nun ruderten wir traurigen Lerzens wieder der unabsehbaren Flut
entgegen und landeten an einer kleinen, dichtbewaldeten Insel, die von
keinem Menschen bewohnt war. Ziegen durchstreiften in unzählbaren
Laufen die Ebenen, wild und ohne Scheu vor lauernden Jägern. Wir
hatten hier eine leichte und glückliche Jagd und versorgten uns reichlich
mit Nahrungsmitteln. Aber als wir uns durch Speise und Schlaf er¬
quickt hatten, gelüstete mich's, nach der nahen Insel hinüberzusteuern,
die ungeheuer groß und fruchtbar vor uns lag. Auch hörten wir
Menschenstimmen da drüben, und weidende Lerden kletterten auf den
Lügeln umher. Dort nämlich haust das berühmte Riesenvolk der
Zyklopen, ein wildes Geschlecht, ohne Ackerbau, ohne künstliche Woh¬
nungen, ohne gemeinsames Oberhaupt, ohne Volksversannnlungen und
Gerichte, bei dem jede Familie völlig gesondert für sich besteht. „Wohl¬
an denn," sagte ich zu meinen Genossen, „bleibt hier mit euern Schiffen;
ich werde mit dem meinigen und zwölf erlesenen Gefährten dort Hin¬
übersteuern und das Land untersuchen! Denn gern möcht' ich wissen,
welcherlei Menschen es bewohnen, ob sie noch wild und gesetzlos sind,
oder ob sie Gastfreundschaft üben und die Götter ehren." So sprach
ich und bestieg von neuem das Schiff. Mit mir nahm ich einen großen
Schlauch des köstlichen Weins, den mir ein Priester der Cikonen irr
Ismarus geschenkt hatte, weil wir bei der Zerstörung der Stadt ihn
und sein Laus verschonten. Mit großem Bedachte versorgte ich mich
mit dem süßen, herzbezwingenden Trank; denn es ahnte mir, ich würde
auf unbändige Menschen stoßen, die durch Recht und Rede nicht zu
bezwingen wären.
Als wir angekommen waren, verbarg ich mein Schiff vorsichtig m
einer heimlichen Bucht und betrat mit meinen Gefährten und meinem
Weinschlauche das Land. Nicht fern erblickte ich eine gewaltige Felsen¬
höhle, die rings mit einen: Walle von großen Steinen umbaut und von
einer Reihe hochstämmiger Fichten und Eichen beschattet war. Das
war die Wohnung des fürchterlichsten unter den Riesen, wo er nachts
mit allen seinen Ziegen und Schafen hauste; denn Lerden zu weiden
war seine einzige Beschäftigung. Er war ein Sohn Poseidons und
hieß Polyphemus./Auf der Stirn hatte er, wie alle Zyklopen, ein
einziges, aber entsetzliches Auge, und in seinen Armen lag eine Kraft,
Felsen wegzuwälzen und Granitblöcke wie Kiesel durch die Luft zu
schleudern./Einsam zog er aus den Bergen umher, und keiner ver¬
änderen Zyklopen hatte Amgang mit ihm; denn er war roh und sann
nur auf Verderben und boshaften Frevel. Ich Anglücklicher, das nicht