Full text: [Abt. 2 = Für Quinta, [Schülerband]] (Abt. 2 = Für Quinta, [Schülerband])

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II. Märchen. 
15. Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. 
Von den Brüdern Grimm. 
Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und ge¬ 
scheit und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war 
dumm, konnte nichts begreifen und lernen, und wenn ihn die Leute sahen, 
sprachen sie: „Mit dem wird der Vater seine Last haben!" Wenn 
nun etwas zu tun war, so mußte es der älteste allzeit ausrichten; hieß 
ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und 
der Weg ging dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, 
so antwortete er wohl: „Ach, Vater, es gruselt mir!" denn er fürchtete 
sich. Oder wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei 
einem die Laut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal: „Ach, 
es gruselt mir!" Der jüngste saß in einer Ecke und hörte das mit an 
und konnte es nicht begreifen, was es heißen sollte. „Immer sagen sie: 
,Es gruselt mir! es gruselt mirll mir gruselt's nicht; das wird wohl 
eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe." 
Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach: „Äör' du, 
in der Ecke dort, du wirst groß und stark, du mußt auch etwas lernen, 
womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie sich dein Bruder Mühe 
gibt; aber an dir ist Äopsen und Malz verloren." „Ei, Vater," ant¬ 
wortete er, „ich will gerne was lernen; ja, wenn's anginge, so möchte 
ich lernen, daß mir's gruselte; davon verstehe ich noch gar nichts." Der 
älteste lachte, als er das hörte, und dachte bei sich: Du lieber Gott, 
was ist mein Bruder ein Dummbart, aus dem wird sein Lebtag nichts; 
was ein Läkchen werden will, muß sich beizeiten krümmen. Der Vater 
seufzte und antwortete ihm: „Das Gruseln, das sollst du schon noch 
lernen; aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen." 
Bald danach kam der Küster zum Besuch ins Äaus; da klagte 
ihm der Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen 
Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüßte nichts und lernte nichts. 
„Denkt Euch, als ich ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wollte, 
hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen." „Wenn's weiter nichts 
ist," antwortete der Küster, „das kann er bei mir lernen; tut ihn nur 
zu mir, ich will ihn schon abhobeln." Der Vater war es zufrieden, 
weil er dachte: Der Zunge wird doch ein wenig zugestutzt. Der Küster 
nahm ihn also ins Äaus, und er mußte die Glocke läuten. Nach ein 
paar Tagen weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, in den 
Kirchturm steigen und läuten. Du sollst schon lernen, was Gruseln 
ist, dachte er, ging heimlich voraus, und als der Zunge oben war und
	        
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