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Ferdinand Avenarius. 
366. Der Seelchenbaum. 
Weit draußen, einsam in ödem Raum 
Steht ein uralter Weidenbaum 
Noch aus den Heidenzeiten wohl, 
Verknorrt und verrunzelt, gespalten und hohl, 
s Keiner schneidet ihn, keiner wagt 
Vorüberzugehn, wenn's nicht mehr tagt, 
Kein Vogel singt ihm im dürren Geäst, 
Raschelnd nur spukt drin der Ost und West; 
Doch wenn am Abend die Schatten düstern, 
„io Hörst du's wie Sumsen darin und Flüstern. 
Und nahst du der Weide um Mitternacht, 
Du siehst sie von grauen Kindlein bewacht: 
Auf allen Ästen hocken sie dicht, 
Lispeln und wispeln und rühren sich nicht. 
i5 Das sind die Seelchen, die weit und breit 
Sterben gemußt, eh' die Tauf' sie geweiht: 
Im Särglein liegt die kleine Leich', 
Richt darf das Seelchen ins Himmelreich. 
Und immer neue, — siehst es du? — 
so In leisem Fluge huschen dazu. 
Da sitzen sie nun das ganze Jahr 
Wie eine verschlafene Käuzchenschar. 
Doch Weihnachts, wenn der Schnee rings liegt 
Und über die Länder das Christkind fliegt, 
25 Dann regt sich's, pludert sich's, plaudert, lacht, 
Ei, sind unsre Käuzlein da aufgewacht! 
Sie lugen aus, wer sieht was, wer? 
Ja freilich kommt das Christkind her! 
Mit seinem helllichten Himmelsschein 
so Fliegt's mitten zwischen sie hinein: 
„Ihr kleines Volk, nun bin ich da — 
Glaubt ihr an mich?" Sie rufen: „Ja!" 
Da nickt's mit seinem guten Gesicht 
Und herzt die Armen und ziert sich nicht. 
35 Dann klatscht's in die Hände, schlingt den Arm 
Ums nächste — aufwärts schwirrt der Schwarm 
Ihm nach und hoch ob Wald und Wies' 
Ganz graden Weges ins Paradies. 
Stimmen und Bilder, S. 154ff.