Full text: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminare

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der schönsten und vollkommensten Wirkung gewiß sein. — Wenn ein Wort vor— 
kommt, das vermöge seines Sinnes sich zu einem erhöhten Ausdruck eignet oder 
vielleicht schon an und für sich selbst, seiner innern Natur und nicht des darauf 
gelegten Sinnes wegen, mit stärker artikuliertem Ton ausgesprochen werden muß: 
so ist wohl zu bemerken, daß man nicht wie abgeschnitten sich aus dem ruhigen 
Vortrag herausreiße und mit aller Gewalt dieses bedeutende Wort herausstoße 
und dann wieder zu dem ruhigen Ton übergehe, sondern man bereite durch eine 
weise Einteilung des erhoͤhten Ausdrucks gleichsam den Zuhörer vor, indem man 
schon auf die vorhergehenden Wörter einen mehr artikulierten Ton lege und so 
steige und falle bis zu dem geltenden Wort, damit solches in einer vollen und 
runden Verbindung mit den andern ausgesprochen werde. 
Luciane, wie alle Menschen ihrer Ärt, die immer durch einander mischen, 
was ihnen vorteilhaft, und was ihnen nachteilig ist, wollte nun ihr Glück im 
Recitieren versuchen. Ihr Gedächtnis war gut, aber wenn man aufrichtig reden 
sollte, ihr Vortrag geistlos und heftig, ohne leidenschaftlich zu sein. Sie recitierte 
Balladen, Erzählungen, und was sonst in Deklamatorien vorzukommen pflegt. 
Dabei hatte sie die unglückliche Gewohnheit angenommen, das, was sie vortrug, 
mit Gesten zu begleiten, woduͤrch man das, was eigentlich episch und lyrisch ist, 
auf eine unangenehme Weise mit dem Dramatischen mehr verwirrt als verbindet. 
206. Unterschied der Poesie und Malerei. 
Gotthold Ephraim Lessing. 
Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere 
Mittel oder Zeichen gebraucht, als die Poesie, jene nämlich Figuren und Farben 
im Raume, diese aber artikulierte Töͤne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen 
ein bequemes Verhäͤltnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können neben ein⸗ 
ander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren 
Teile neben einander existieren —, auf einander folgende Zeichen aber auch nur 
Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen. 
Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, heißen 
Körper; folglich sind Koöͤrper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen 
Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die auf einander, oder deren Teile auf 
einander folgen, heißen Handlungen; folglich sind Handlungen der eigentliche 
Gegenstand der Poesie. 
. Doch alle Körper existieren nicht allein im Raume, sondern auch in der 
Zeit; sie dauern fort und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer anders 
erscheinen und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Er— 
scheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden und kann 
die Ursache einer folgenden, und sonach gleichsam das Centrum einer Handlung 
sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungs- 
weise durch Körper. Auf der anderen Seite können Handlungen nicht für sich 
elbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhangen. Insofern nun diese 
Wesen Körper sind oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch 
Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen. m— 
Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen 
Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den reichhaltigsten wählen, aus 
welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird. Ebenso kann 
auch die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige Eigen— 
schaft der Körper nutzen, und inuß daher diejenige wählen, welche das sinnlichste 
Bild des Körpers von der Seile erwect, von welcher sie ihn braucht. Hieräus
	        
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