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fließt die Regel von der Einheit der malerischen Beiwörter und der Sparsamkeit
in den Schilderungen körperlicher Gegenstände.
Ich würde in diese trockene Schlußkette weniger Vertrauen setzen, wenn ich
sie nicht durch die Praxis des Homer vollkommen bestätigt fände, oder wenn es
nicht vielmehr die Praxis des Homer selbst wäre, die mich darauf gebracht hat.
Nur aus diesen Grundsätzen läßt sich die große Manier des Griechen bestimmen
und erklären, so wie der entgegengesetzten Manier vieler neueren Dichter ihr
Recht erteilen, die in einem Stuͤcke mit dem Maler wetteifern wollen, in welchem
sie notwendig von ihm übertroffen werden müssen. Ich finde, Homer malt nichts
als fortschreitende Handlungen, und alle Körper, alle einzelnen Dinge malt er
nur durch ihren Anteil an diesen Handlungen, gemeiniglich nur mit einem Zuge.
Was Wunder also, daß der Maler da, wo Homer malt, wenig oder nichts für
sich zu thun sieht, und daß seine Ernte nur da ist, wo die Geschichte eine Menge
schöner Körper in schönen Stellungen in einem der Kunst vorteilhaften Raume
zusammenbringt, der Dichter selbst mag diese Körper, diese Stellungen, diesen
Raum so wenig malen, als er will. Für ein Ding, sage ich, hat Homer
gemeiniglich nur einen Zug. Ein Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff, bald
das hohle Schiff, bald das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze
Schiff; weiter läßt er sich in die Malerei des Schiffes nicht ein. Aber wohl das
Schiffen, das Abfahren, das Anlanden des Schiffes macht er zu einem ausführ—
lichen Gemälde, zu einem Gemälde, aus welchem der Maler fünf, sechs besondere
Gemälde machen müßte, wenn er es ganz auf seine Leinwand bringen wollte.
Zwingen den Homer ja besondere Umstände, unseren Blick länger auf einen
einzelnen körperlichen Gegenstand zu heften, so wird dessen ungeachtet kein Ge—
mälde daraus, dem der Maler mit dem Pinsel folgen könnte, sondern er weiß
durch unzählige Kunstgriffe diesen einzelnen Gegenstand in eine Folge von Augen⸗
blicken zu setzen, in deren jedem er anders erscheint, und in deren letztem ihn der
Maler erwarten muß, um uns entstanden zu zeigen, was wir bei dem Dichter
entstehen sehen. Z. B. will Homer den Wagen der Juno sehen lassen, so muß
ihn Hebe vor unseren Augen Stück für Stück zusammensetzen. Wir sehen die
Räder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel, Riemen und Stränge, nicht sowohl
wie es beisammen ist, als wie es unter den Händen der Hebe zusammen kommt.
Auf die Räder allein verwendet der Dichter mehr als einen Zug und weiset uns
die ehernen acht Speichen, die goldenen Felgen, die Schienen von Erz, die silberne
Nabe, alles besonders. Man sollte sagen, da der Räder mehr als eines war,
so mußte in der Beschreibung ebensoviel Zeit mehr auf sie gehen, als ihre besondere
Anlegung in der Natur selbst mehr erforderte.
Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß sich
der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück für Stuͤck umthun,
das weiche Unterkleid, den großen Mantel, die schönen Halbstiefel, den Degen,
und so ist er fertig und ergreift das Scepter. Wir sehen die Kleider, indem
der Dichter die Handlung des Bekleidens malt; ein anderer würde die Kleider
bis auf die geringste Franse gemalt haben, und von der Handlung hätten wir
nichts zu sehen bekommen. Und wenn wir von diesem Scepter, welches hier bloß
das väterliche, unvergängliche Scepter heißt, so wie ein ähnliches ihm an einem
anderen Orte bloß das mit goldenen Stiflen beschlagene Scepter ist; wenn wir,
sage ich, von diesem wichtigen Scepter ein vollständigeres, genaueres Bild haben
sollen, was thut alsdann Homer? Statt einer Abbildung giebt er uns die Ge—
schichte des Scepters; erst ist es unter der Arbeit des Vulkan, nun glänzt es in
den Händen Jupiters, nun bemerkt es die Würde des Merkur, nun ist es der
Kommandostab des kriegerischen Pelops, nun der Hirtenstab des friedlichen Atreus.